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von Sascha Erni, 18.08.2013

Faust als Nerd, oder: Habe nun, ach …

Faust als Nerd, oder: Habe nun, ach …
v. li nach re, zuerst oben, dann unten: "Da steh ich nun, ich armer Tor …" … und diktiere in mein Mobile-Phone. Hans Gysi als Faust. - Die Friedheimer Spatzen spielten im Keller des Restaurants Traube nicht nur als Hintergrundmusik auf, sondern wurden in den Text geschrieben. - Peter Wenk, Mit-Erschaffer von "Habe nun, ach … ", gibt den Mephisto. Das heisst, einen der dreien. - Romantik beim Aschenbecher: Hans Gysis "Faust" lässt bei Evelyne Küblers "Gretchen" nichts anbrennen. | © Sascha Erni

Das Theagovia-Theater inszeniert zusammen mit den Friedheimer Spatzen Goethes «Faust». In Weinfelden. Als Stationentheater. Kann das gut gehen? thurgaukultur.ch besuchte die Premiere und meint: Und wie!

Sascha Erni

«Da steh ich nun, ich armer Tor …» diktiert Heinrich ins Smartphone. Dann tritt er - Hans Gysi - den Bücherhaufen, denn Schulwissen ekelt ihn an. Er setzt sich an den Computer, um lieber der Magie zu frönen. Bücher sind «alt», Technologie «neu». Computer müssten Goethe wie Magie vorgekommen sein, also ist das sicher ein passendes Symbol? Kurz darauf klettert Faust eine Leiter hoch, je eine Sprosse für «Am Anfang war das Wort», dann «…Tat», «…Sinn», «…Kraft». Symbolisch! Und Mephisto tänzelt zu dritt auf die Bühne: eine Rolle auf drei Schauspieler verteilt (Brigitte Krauss, Christoph Ullmann, Peter Wenk). Zuvor noch sah man Mephisto im Vestibül mit Gott Karten spielen, als sie um Fausts Seele wetteten. Adrette Jungs, vielleicht zwölf Jahre alt, der eine schwarz gekleidet, der andere weiss. Sie unterhielten sich über der Menschen Markensucht. Gott trug Nike. Oh, Sozialkritik.

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So beginnt die Inszenierung von «Faust» am Theaterhaus Thurgau in Weinfelden. So … postmodern, fast muss man sagen: so gewohnt postmodern, wie so viele Adaptionen klassischer Theaterstücke. Aber dann führt das Mephisto-Kollektiv nicht nur Heinrich, sondern gleich das ganze Publikum aus dem Theatersaal ins richtige Leben.

Wir marschieren hinter zweien der Mephistos, vom Theaterhaus am Bahnhof Weinfelden nach irgendwo hin. Der Effekt ist verblüffend: Eben noch hatte man Theater gesehen, dann geht man an Teenagern vorbei, die mit Eve in der Hand und iPod im Ohr auf Freunde für den Ausgang warten. Autos fahren auf der Hauptstrasse, die Fenster dem sommerlichen Wetter geschuldet auf Halbmast, die Bumm-Bumm-Musik dafür auf Vollgas. Und dann stehen die zwei Jungs aus dem Vorspiel auf dem Parkplatz. Gott spielt Geige, Mephisto reisst Grimassen. Auch jetzt noch frage ich mich, für wen dieser Moment surrealer war: für uns Zuschauer, oder für die Passanten?

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Und so geht das Hinterfragen los. Gehören die komisch gekleideten Leute zum Ensemble? Oder «sind die echt?», und sie halten uns umgekehrt für Teil einer Kunstperformance?

Von fern schon hören wir die Friedheimer Spatzen, die uns im Restaurant Traube erwarten. Die Musik klingt nach The Doors, leicht psychedelisch, könnte aber auch einfach eine Gartenparty irgendwo in Weinfelden sein. Die zwei Mephistos führen uns in den Keller. Hier wird auch klar, weshalb man sich Karten für «Habe nun, ach …» reservieren sollte: Der Keller ist nicht gross, es passen vielleicht 60 Zuschauer hinein. Und auch dann muss man als Dame damit rechnen, dass Faust zum Tanz auffordert. Mephistos Trunk bekommt in dieser gedrängten Club-Atmosphäre eine nahe liegende Neuinterpretation: Der introvertierte Nerd Faust ist auf Partydroge und geht so richtig aus sich heraus. Aber es wird immer noch hauptsächlich Bühnendeutsch gesprochen. So richtig Goethe, Text nach Buch.

Die Spatzen geben nicht Hintergrundmusik zum besten, sie sind voll ins Konzept von Marie Luise Hinterberger und Peter Wenk integriert. Sie sind die Kapelle im Schankhaus, beschweren sich sogar über das «Gesöff», das Mephisto als Bezahlung ausschenken lässt. Bezeichnenderweise wird dieser spezifische Mephisto von Peter Wenk selbst gespielt.

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Der Realitätsstrudel geht weiter: Drei Teenies lassen sich vor, im und auf dem Bornhauser-Brunnen fotografieren. Samstag Abend, kann vorkommen … Aber Faust zeigt sich verzückt von der Smartphone-Fotografin. Gretchen!

Evelyne Kübler überzeugt mich auf ganzer Linie, nicht erst im letzten Akt. Sie wirkt natürlich, interessiert, gleichzeitig etwas naiv. Dieses Gretchen ist so ganz anders als die Tussis, die sie am Brunnen ablichtet und die später gekonnt-zickig die Überleitung aus der Pause bestreiten werden. Kein Wunder, dass der Nerd Heinrich sich für Gretchen interessiert. Es wirkt wie von Gott gefügt. Oder vom Teufel?

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Die ersten zwei Drittel von «Habe nun, ach …» fühlen sich über weite Strecken wie ein Lustspiel an. Noch nicht Schwank-Territorium, aber doch – irgendwie lustig. Das liegt nicht an der «Nachbarin» Christine Steiger (die ich aber gerne in mehr komischen Rollen sehen würde), sondern an der Tonalität und am Aufbau der Inszenierung: Dieser nerdige Faust weiss alles über die Welt, widmet sich als Einsiedler im Schlafanzug der Computer-Magie. Daraus wird er herausgerissen und auf andere Gedanken gebracht – Liebe, Lebensfreude, Alkohol, weisse Anzüge und so weiter. Komödie, klischiert.

Aber dann wird’s duster, sehr. Inklusive einer im Kontext sehr verstörenden Videosequenz der schwangeren Gretchen, die sich irr auf einem Klo mit Lippenstift bemalt. Die Mephistos zeigen Faust die Sequenz auf dem Smartphone. Happy-Slapping in einer Goethe-Adaption? Ja, auch das geht.

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Natürlich sind solche Methoden manipulativ. Aber nach zig hundert, wenn nicht tausenden von «Faust»-Interpretationen schafft es dieser Ansatz, eine andere, eine aktuelle Sicht auf den klassischen Stoff zu vermitteln. Die ganzen postmodernen Klischees des ersten Aktes werden mit dem letzten zu bösen Parodien. Und «Habe nun, ach …» zu einer realistischen Betrachtung unserer doppelbödigen Realitätswahrnehmung und unseres oft zynischen Werteverständnisses. Und das, ohne selbst wirklich zynisch zu werden.

Und hier winde ich den Verantwortlichen von Theagovia ein ganz dickes Kränzchen: Wenn schon Faust ins 21. Jahrhundert transportieren, dann bitte so.

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