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von Katrin Zürcher, 25.02.2014

Schule wie vor 100 Jahren

Schule wie vor 100 Jahren
Zeitreise ins letzte Jahrhundert: Museumsführerin Susanne Diethelm und eine vierte Klasse aus Rafz in der historischen Amriswiler Schulstube. | © Katrin Zürcher

Im Schulmuseum Amriswil können Kinder und Erwachsene die Schulwelt vergangener Jahrhunderte erleben. Viertklässler aus Rafz lernen bei ihrem Besuch zu schreiben wie vor hundert Jahren.

Katrin Zürcher

„Die Schrift ist voll schwer“, seufzt Ediesa. Ihre Banknachbarin Isabel nickt: „Mit diesem Stift zu schreiben auch.“ Die beiden Mädchen sitzen in einer Schulbank aus den frühen 1930er Jahren und kritzeln ihre Vornamen auf Schiefertafeln – in deutscher Kurrentschrift. Diese fremd anmutende Schrift wurde im Thurgau 1927 durch die Schnürlischrift abgelöst. Die Februarsonne scheint durch die Fenster der Schulstube im ersten Stock des Amriswiler Schulmuseums, während die Griffel über den Stein kratzen.

19 Viertklässlerinnen und Viertklässler aus Rafz notieren, dass sie gerne gamen oder reiten. Museumsführerin Susanne Diethelm weiss in ihrer Einführung Interessantes zu erzählen über das Heimatdorf der Klasse, die für ihre Exkursion das Schulmuseum gewählt hat: „Der Pfarrer von Rafz notierte im Jahr 1771, dass im kleinen Rafzer Schulhaus ein Lehrer 60 Buben und 40 Mädchen unterrichtete. Und das vor allem im Winter, denn im Sommer mussten die Kinder zu Hause bleiben und den Eltern auf dem Bauernhof helfen.“

Englisch mit Harmonium

Annähernd so viele Schüler – bis zu 80 – wurden auch im Amriswiler Schulzimmer unterrichtet, in dem die Rafzer Kinder jetzt sitzen. Natürlich ebenfalls von nur einem Lehrer. Der Ausflug in die Vergangenheit scheint den Viertklässlern zu gefallen. Sie erheben sich brav aus den Bänken, als die Tür aufgeht, und sagen im Chor: „Guten Morgen Herr Lehrer.“ Danach singen sie – denn zum Rechnen oder Lesen sei es am Morgen häufig noch zu dunkel gewesen – erst einmal drei Lieder, eines davon auf Englisch. Ihre Lehrerin Sarah Maag begleitet sie am Harmonium. „Es geht recht gut“, kommentiert sie das Spiel auf dem historischen Instrument, „nur das Treten ist gewöhnungsbedürftig.“

Die Schulstube aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ist nur einer von mehreren Räumen, die Edith Tanner und Susanne Diethelm vom Schulmuseum den Kindern an diesem Vormittag zeigen. Die beiden pensionierten Lehrerinnen vermitteln die Kultur- und Schulgeschichte anschaulich und mit vielen persönlichen Anekdoten gespickt, spannen den Bogen von den Klosterschulen des Mittelalters bis heute.

Die Bibel als einziges Schulbuch

Der Rundgang führt in den Keller, wo ein Geschichtslabor untergebracht und altes Schulmaterial ausgestellt ist. Sofort weckt ein runder Projektor das Interesse der Kinder. Sie drehen daran und schauen durch die Schlitze ins Innere, wo sich eine kleine Soldatenfigur bewegt. „Ist das ein altes Kino?“ will ein Mädchen wissen. Museumsführerin Edith Tanner lacht: „Ja, fast.“ Sie zeigt ihnen eine grosse, in Holz gebundene Bibel, die sieben Kilogramm wiege. „Lange Zeit waren Bibeln die einzigen Schulbücher“, erzählt sie. „Damals musste niemand zur Schule – man durfte es höchstens.“

Dann erklärt sie den Kindern, dass die Amriswiler Lehrerin Aline Brauchli im Schulhaus wohnte und hier im Keller ihre im Garten angepflanzten Kartoffeln lagerte. Im Erdgeschoss ist gar die ehemalige Küche der Lehrerin samt Holzherd erhalten. Hier versuchen die Schüler, an der Geschichtswand verschiedene Fotos – etwa von Schulhäusern oder Klassen – zeitlich korrekt zu ordnen. Es gelingt ihnen erstaunlich gut. „Warum haben alle Mädchen auf diesen Klassenfotos Röcke an?“ fragt ein Bub.

Ein Schulhaus aus Lehm

Um die Rolle der Bilder im Unterricht geht es in der Wechselausstellung „Ansichtssache – Das Bild in der Schule“. Die Klasse hört gebannt zu, wie Susanne Diethelm die Fabel vom Löwen und der Maus erzählt, um sich danach Gedanken zum tieferen Sinn von Märchen wie Rotkäppchen oder Sterntaler zu machen. Die Kinder erfahren auch, wie mit Bildern manipuliert werden kann.

Dann geht es wieder hinauf in den ersten Stock. „Es ist cool hier“, finden zwei Buben, während sie die knarrende Holztreppe hinaufsteigen und ihre Hände über das polierte Treppengeländer gleiten lassen. Sie wissen nun, dass dieses Haus aus Lehm gebaut ist und trotzdem seit 168 Jahren steht und bestens hält. Könnten sie sich vorstellen, hier zur Schule zu gehen? Sie zucken mit den Schultern. „Eher nicht. Unser Schulhaus ist grösser und heller. Und die Treppe tönt nicht so, wenn man hinaufgeht.“

Das Museum im Pisébau

Das Schulmuseum in Amriswil wurde im Jahr 2002 als erstes Schulmuseum der Schweiz eröffnet. „Es ging uns in erster Linie darum, das im Jahr 1846 als Pisébau, also Lehmbau errichtete Haus zu erhalten“, sagt Mitbegründerin Yvonne Joos, Mitglied der Geschäftsleitung. Die Denkmalpflege unterstützte die private Stiftung „Schulmuseum Mühlebach“ in diesem Bemühen, da Pisébauten heute selten sind. Die Stiftung will die Thurgauer Schulgeschichte bewahren, erforschen und vermitteln. Im Bücher- und Museumsshop werden vielfältige Publikationen zu Schulthemen sowie Mitbringsel mit Schulbezug verkauft.

 

Ein Team von ehrenamtlich tätigen Führerinnen und Führern – praktisch alle haben einmal selbst Schule gegeben – bietet auf Anfrage jederzeit Führungen für Schulklassen und Gruppen an. „Speziell an unserem Museum sind die vielen Erzählstränge“, sagt Yvonne Joos. Neben klassischen Schulgeschichte-Führungen werden solche zum Haus angeboten. Auch Führungen zur Person der Lehrerin Aline Brauchli (1900-1992), die im Haus gelebt und gelehrt hat, sind möglich. Weiter gibt es Führungen zu speziellen Schulthemen. Das Museum arbeitet mit der Pädagogischen Hochschule Thurgau sowie verschiedenen Fachhochschulen und Universitäten zusammen. Für Einzelbesucher ist es jeweils am Sonntag und Mittwoch von 14 bis 17 Uhr geöffnet. (kaz)

 

www.schulmuseum.ch

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