Seite vorlesen

von Daniel Badraun, 23.09.2016

Gestrandet im Phönix Theater

Gestrandet im Phönix Theater
Das Team v.l.: Javier Puertas (Bühne und Technik), der syrische Musiker Bahur Ghazi, Autorin und Spielerin Annette Kuhn sowie Regisseur Jean Grädel | © Daniel Badraun

Im Phönix Theater Steckborn ging die Uraufführung des berührenden Stücks „Strandgut" von und mit Annette Kuhn über die Bühne. Es geht um Flüchtlingen und um Schuhe.

Daniel Badraun

Es ist dunkel im Phönix-Theater in Steckborn. Musik ertönt. Die Melodie aus dem Film „Zorbas - the Greek". Ferienstimmung kommt auf, die Füsse wippen. Dann wird es langsam hell auf der Bühne, rechts eine Schaukel, in der Mitte ein Sandhaufen in Form eines Bootes. Links eine Parkbank. Auf dem Bootsrand stehen Schuhe. Ein Spielplatz?

Bevor man alles erfassen kann, ist Annette Kuhn da. Sie trägt robuste Arbeitshosen, ein rotes Shirt, Treckingschuhe. „Ich bin gleich so weit", sagt sie und holt einen Plastikbeutel aus dem Rucksack. Ganz nebenbei erzählt sie, dass man von der Insel Lesbos keine Steine mitnehmen darf, dass es auch illegal sei, wenn man Flüchtlingen an Land helfe. Dann schlüpft sie in die Schuhe von Youssef, der einen Zwillingsbruder in Deutschland hat und mit dessen Pass reisen will. „Du hast aber keine Adresse, an die er den Pass schicken kann, oder?", sagt die skeptische Flüchtlingshelferin.

Regisseur Jean Graedel ist es gelungen, den vielschichtigen Text von Annette Kuhn in stimmungsvolle Bilder umzusetzen, die starke Gefühle transportieren, ohne gefühlsduselig zu sein oder ins Kitschige abzugleiten.

„Ufstah, s'isch halbi sibni!"

Auf der Bank links sitzt der syrische Musiker Bahur Ghazi. Sein Instrument ist das Oud, ein Vorgängerinstrument der Laute und Gitarre. Virtuos spielt er arabische Melodien, die in Jazz-Improvisationen übergehen. Mit seiner Musik gibt Ghazi dem Stück Rhythmus und eine eigene Farbe.


Der syrische Musiker Bahur Ghazi und Annette Kuhn. Bild: bd

 

„Ich bin Bahur", sagt er, „ich gehe durch die Nebengassen, weil man uns Ausländer nicht in der Hauptstrasse sehen will." - „Ich bin Annette. Ich meide die Nebengassen, denn dort treiben sich die Asylbewerber herum." Es gibt Verständigungsprobleme. Als die Flüchtlingshelferin dem Araber eine Mütze mit dem Logo einer Schweizer Bank überreichen will, erntet sie einen arabischen Redeschwall, der wegen Verbindungsproblemen schwer zu übersetzen ist.
„Das Arabische tönt immer so aggressiv!"
„Soll ich gehen?", fragt er.
„No, kein Problem. Refugees welcome."
Trotzdem ist da diese Hilflosigkeit, die Distanz, die unüberbrückbar scheint.
Das erste arabische Wort, das sie gelernt hat, war „schukra" für danke, sagt Kuhn.
Ghazis erste schweizerdeutschen Worte waren „Ufstah, s'isch halbi sibni!".

Das Boot ist viel zu klein

Immer wieder schlüpft Annette Kuhn in andere Schuhe und damit in eine andere Rolle. Sie ist der Junge aus Afghanistan, der es bis zum Vater nach Deutschland schafft, dort aber feststellen muss, dass er beim gebrochenen Familienoberhaupt nicht willkommen ist. Mit einem Tuch wird sie zur Gestrandeten, deren Mann beim Kentern des Flüchtlingsbootes ertrunken ist, und die kurz danach eine Tochter zur Welt bringt.


Annette Kuhn probiert Schuhe wie Rollen an. Bild: db

 

Die einfühlsamen Texte des vielschichtigen Stücks bringen dem Publikum Schicksale näher, sie lösen Menschen aus der Menge der Flüchtlinge heraus und geben ihnen ein Gesicht. Plötzlich zerreisst das Röhren eines Aussenbordmotors die Stille. Das Boot ist viel zu klein, die Leute sind so verletzlich, die Gefahren unendlich gross. So gross wie die Hoffnung, dass die Geschichte gut ausgeht.

In den Medien sind Flüchtlinge Schlagzeilen. So und so viele ertrunken, so und so viele gerettet, so und so viele an irgend einer Grenze gestrandet, eingekesselt von der Polizei, verzweifelt im Morast. Viele sind unterwegs. Aus Afghanistan, Syrien, Nordafrika. „Zum Glück ist da das Meer, sind da die Zäune", sagen zwei Socken, die sich in Annette Kuhns Händen zu Frau und Herr Jedermann verwandelt haben und Allgemeinplätze zum Besten geben.

„Hold the line, gopferteli!"

Auf den griechischen Inseln sind auch die Helfer, die unbedingt bei der Landung eines Flüchtlingsboots dabei sein wollen. In Gummistiefeln und mit dem Feldstecher bewaffnet steht die Retterin aus der Schweiz da und wartet. Sie möchte noch etwas erleben, bevor ihr Einsatz zu Ende ist, notfallmässig im Baywatch-Bikini ins Meer hinauslaufen und die Welt retten. Da haben es die Flüchtlinge doch besser, findet sie. Die kommen in ein neues Leben, während sie wieder nach Hause in ihren Alltag zurück muss. Abenteuer light. Später sinniert sie über ihre Grundbedürfnisse. Der Kaffee am Morgen, die geputzten Zähne und das geschminkte Gesicht. „Ohne Handy bin ich am Arsch!" Sie hat das Recht zu schweigen, zu weinen, zu sprechen, wenn sie verstanden werden und nicht allein sein will.

„Ein Schiff wird kommen und meinen Traum erfüllen und meine Sehnsucht stillen", singt Annette Kuhn den bekannten Schlager von Nana Mouskouri über das Mädchen aus Piräus, das sich über die Ankunft der Schiffe freut. Mit einer gelben Warnweste bekleidet steht auch die Retterin in diesem Hafen. „Hold the line please." Entnervt wimmelt sie eine Flüchtlingsfrau ab, für die es keine Schuhe der Grösse 42 gibt. Auf der anderen Seite werden Hosen probiert, die entweder zu eng oder zu lang sind. „No water, sorry, water finished. Bread finished." Zigaretten und gewaschene Haare? Wer braucht das schon. Und wie war das doch gleich mit der Menschenwürde? „Hold endlich the line, gopferteli!"

Und da ist noch die Geschichte von Aischylos aus der griechischen Mythologie, in der die Töchter des Daneos aus Ägypten in ihre Heimatstadt Argos fliehen, weil sie nicht heiraten wollen. König Pelasgos möchte ihnen Schutz gewähren, riskiert aber einen Krieg mit der Heimat der verschmähten Ehemänner, wenn er die Frauen aufnimmt. In der Flüchtlingsfrage ist nichts einfach. Doch dies soll keine Ausrede für Untätigkeit sein.


Annette Kuhn sammelt im Foyer des Phoenix-Theaters Schuhe für die Flüchtlinge. Eine Möglichkeit, damit die Menschen, die übers Meer gekommen sind, wieder auf eigenen Füssen stehen können.

 


Film von Annette Kuhn, Musik von der Band des spanischen Rettungsschwimmers James Jorge

 

Die Akteure

Annette Kuhn war als Helferin vor Ort auf Lesbos und in Piräus. Sie hat die gestrandeten Menschen getroffen, mit ihnen einen kurzen Moment ihrer Odyssee erlebt und musste sie weiterziehen lassen.


Bahur Ghazi ist vor fünf Jahren in die Schweiz geflohen, wo er die ersten Monate im Durchgangsheim Kreuzlingen verbrachte.


Zusammen mit dem Regisseur Jean Grädel ist aus diesen Erlebnissen ein Theaterstück mit Musik entstanden. (pd)

 

***

Kritik von Dieter Langhart in der Thurgauer Zeitung: Getanzt, gehofft, gewartet

 

www.phoenix-theater.ch

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Bühne

Kommt vor in diesen Interessen

  • Kritik
  • Schauspiel

Werbung

Hinter den Kulissen von thurgaukultur.ch

Redaktionsleiter Michael Lünstroth spricht im Startist-Podcast von Stephan Militz über seine Arbeit bei thurgaukultur.ch und die Lage der Kultur im Thurgau. Jetzt reinhören!

Austauschtreffen igKultur Ost

Für eine starke Kulturstimme im Kanton Thurgau! Dienstag, 11. Juni 2024, 18.00 Uhr, Kult-X Kreuzlingen.

Literaturpreis «Das zweite Buch» 2024

Die Marianne und Curt Dienemann Stiftung Luzern schreibt zum siebten Mal den Dienemann-Literaturpreis für deutschsprachige Autorinnen und Autoren in der Schweiz aus. Eingabefrist: 30. April 2024

Atelierstipendium Belgrad 2025/2026

Bewerbungsdauer: 1.-30. April 2024 über die digitale Gesuchsplattform der Kulturstiftung Thurgau.

Ähnliche Beiträge

Bühne

Ist das die Schule der Zukunft?

Was, wenn man sich die Schule nach seinen eigenen Bedürfnissen auswählen könnte? Mit der Produktion „Better skills“ entwirft das momoll Jugendtheater ab 20. April ein spannendes Gedankenspiel. mehr

Bühne

Blond, aber nicht blöd

Am Ende gab es Standing ovations: „Sugar – Manche mögen’s heiss“ rief bei der Musical-Premiere auf der Zentrumsbühne in Bottighofen Begeisterung hervor. mehr

Bühne

Raus aus der Komfortzone

… rein in die bunte Vielfalt der „Kulturbühne 2024“: Die Wiler Kulturtage stehen vor der Tür, mit Veranstaltungen aus allen möglichen Sparten sowie Aktionen, offenen Ateliers und Proben. mehr