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von Inka Grabowsky, 21.12.2016

Struwwelpeter 2.0

Struwwelpeter 2.0
Regisseur Oliver Kühn springt der Kulturstiftung jetzt zur Seite. Das Bild entstand im Dezember 2016 bei den Vorbereitungen für ein neues Stück des Theater Jetzt | © Inka Grabowsky

Das Theater Jetzt entdeckt im 171 Jahre alten Struwwelpeter zeitlose Probleme von Heranwachsenden. Acht Jugendliche unter der Leitung von Oliver Kühn setzen den Kinderbuchklassiker szenisch um.

Von Inka Grabowsky

„Jeder kennt den Struwwelpeter", sagt der Leiter des Theaters Jetzt, Oliver Kühn. „Allerdings haben die wenigsten ihn wohl ganz gelesen." Insofern bietet er mit seiner Inszenierung eine angenehme Möglichkeit, Halbwissen aufzufüllen. Kühn lässt seine Darsteller die Originaltexte sprechen, allerdings aufgelockert durch heutige Bemerkungen in Mundart. Auch wenn Jugendliche zwischen 10 und 16 Jahren die Hauptrollen übernehmen, erwartet die Zuschauer keine niedliche Kinderaufführung, sondern ein professionelles Theaterstück.

Video zu den Probearbeiten des Stückes "Struwwelpeter"

Die jungen Darsteller haben sich seit August mit dem Theaterspielen im Allgemeinen und dem Struwwelpeter im Besondern auseinandergesetzt. 480 Franken kostet der entsprechende Kurs. „Wer das investiert, bringt auch die Disziplin auf, über so lange Zeit dabei zu bleiben", sagt Produktionsleiterin Christa Kostgeld. Die Ausstattung hat ebenfalls Profi-Niveau: Kühn hat eine Drehbühne ausgeborgt und Kostüme bei Joachim Steiner vom Stadttheater in Konstanz in Auftrag gegeben. Für ausreichend Rauch bei Paulinchens tragischer Zündelei ist ebenfalls gesorgt.

Arbeit mit den Kindern

Während des Theaterkurses haben die Kinder gemeinsam mit Oliver Kühn das Stück erarbeitet. Er sei mitunter schon recht gefordert gewesen, meint der Regisseur und Schauspieler. Inhaltlich hätten die Jugendlichen aber keine Probleme mit dem Stoff gehabt. Sie konnten ihn problemlos in ihre Welt übertragen. Valentin Hüppi, der den Zappelphillip spielt, erkannte sich spontan wieder. „Sitzt still" heisst es heute schliesslich immer noch in der Schule, auch wenn man inzwischen von ADHS spricht.

Böse Eltern: Martina Flück und Frank Bakker (Im Hintergrund Marlen Oberholzer). Bild: Inka Grabowsky

Paulinchen (Selina Colombo), die den Schmerz faszinierend findet, bekäme die Diagnose Borderline, der Suppenkaspar hätte Anorexie. Sein Abmagern zeigen drei blonde Mädchen (Ina Niedermann, Vanja Müller und Lilith Thoma), die eine unterschiedliche Statur haben. „Nur den ‚schwarzen Mohren' fanden wir grenzwertig", so Kühn. „Die Geschichte drohte, rassistisch zu wirken. Also haben wir sie faschistoid überzeichnet." Natalija Gasser stellt sich dieser Herausforderung. Lara Früh darf als fliegender Roland abheben und wird als Hans Guck-in-die-Luft fallen. Linda Barberi darf als böser Friederich für einmal richtig wild sein. „Cool" sei das Theaterspielen, meinen die jungen Leute übereinstimmend, „aber ein bisschen anstrengend."

Rolle der Erwachsenen

Im Original sind die Eltern meist abwesend, in der Sirnacher Version gibt es Eltern, die überbeschäftigt sind und deshalb die Kinder sich selbst überlassen. Die narzisstischen Workoholics sind die eigentlichen Missetäter. Eine Sonderrolle nimmt Henryk Pawlikowski ein. Er scheint als Beobachter alles zu notieren. Es bleibt offen, ob er der Autor des „Struwwelpeter", Heinrich Hoffmann, ist oder wie Hoffmann ein Arzt, der psychisch Kranken zusieht.

Im Zentrum drei mal Suppenkaspar: Lilith Thoma, Ina Niedermann und Vanja Müller. HInten: Selina Colombo. Links: Lara Früh und Valentin Hüppi. rechts Natalija Gasser und Linda Barberi. Bild: Inka Grabowsky

„Erwachsene haben Probleme mit dem Struwwelpeter, weil sie ihn für zu grausam halten" sagt Oliver Kühn. „Die Kinder hatten ihren Spass an den Exzessen." Spass dürfte auch das Publikum haben, wenn es genügend schwarzen Humor mitbringt. In der Aufführung des Theaters jetzt gibt es viel Situationskomik, genau choreografierte Tanzszenen und mitreissende Songs. Die Ideen dazu hatte Oliver Kühn selbst: „Ich habe Melodien im Stil von Kinderliedern unserm musikalischen Leiter Andi Bissig auf der Gitarre vorgeklampft, er hat sie dann ausgearbeitet und umgesetzt." Der Struwwelpeter wird nun mit Hilfe von Andi Bissig und Valentin Baumgartner von „Vendredi Soir Swing" und von den Wiler Bläserkids zu einer Art Grusical. Die Partystimmung soll noch lange nach der Aufführung anhalten. Deshalb gibt es im Foyer des Gemeindezentrums Dreitannen in Sirnach eine Struwwelpeter-Chilbi, bei der selbstverständlich die Suppe serviert wird, die der Suppenkaspar verschmäht hatte.

Spieldaten: Do 22. und Fr 23.12.
Fr. 13., Sa 14. und So 15. 1.
Do 19. und Fr 20.1.
Beginn jeweils 20 Uhr, sonntags 18 Uhr
Näheres unter www.theaterjetzt.ch 

 

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