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von Jeremias Heppeler, 17.02.2017

Wer bin ich?

Wer bin ich?
Eine der Arbeiten, die in der neuen Ausstellung des Duos Glaser/Kunz im Kunstmuseum Thurgau zu sehen sind | © Glaser/Kunz

Das Künstler-Duo Glaser/Kunz zeigt neue Arbeiten im Kunstmuseum Thurgau. Und geht dabei den wesentlichen Fragen des Mensch-Seins auf den Grund. Die Ausstellung wird am Sonntag, 19. Februar, 11.30 Uhr, im Kunstmuseum in der Kartause Ittingen eröffnet.

Von Jeremias Heppeler

Es gibt eine Anekdote über Glaser / Kunz, die das Schaffen des Künstlerduos beinahe essentiell zusammenfasst: 2009 hatten sie sich bereits vor Start in die heiligen Hallen der Art Basel geschleust, im Gepäck: „Jonathan", Rollstuhlfahrer und Skulptur, die Gliedmasse in brachiale Gipsverbänden verhüllt, das Gesicht kinematografisch beschossen, sodass das bleiche Puppenkopf-Antlitz kaum mehr von einem Mensch zu unterscheiden ist. „Jonathan" erscheint als Kunstsammler, als virtueller Spiegel des erbarmungslosen Kunstmarktes, dem nur ein Thema mantraartig eintätowiert wurde: „Kaufen und verkaufen. Kaufen und verkaufen. Kaufen und verkaufen." Im Laufe des Tages ging „Jonathan" der aus zwei Autobatterien gezapfte Saft aus, sein Gesicht und seine Identität erloschen. Und als Glaser / Kunz die Art Basel verlassen wollen, gibt es Ärger am Einlass: „Wer Kunst ausführen will, der braucht einen Lieferschein." Wenig später springt der Strom wieder an, die Skulptur wird wieder Mensch und das Duo kann ihren quasselnde Kumpanen problemlos im Rollstuhl an der Security vorbei schieben.

„Es geht darum, eine Illusion vorzutäuschen und diese dann aber gezielt zu enttäuschen und zu brechen. Die eigene Täuschbarkeit wird uns vor Augen geführt." - Stefanie Hoch (Kuratorin)

Hier zeigt sich: Glaser / Kunz scheuen weder Konfrontation noch Intervention. Ihre Arbeiten sind explizit kunst-politisch und poetologisch und verwischen alle Definitionsbarrieren und Demarkationslinien: Zwischen Künstler und Objekt, zwischen Mensch und Maschine, zwischen Installation und Performance, zwischen Realität und Fiktion, zwischen Gegenwart und dystopischer Zukunft. Hierfür nutzen die Zürcher die Technik der kinematografischen Skulptur: Sie entwickeln humanoide Puppen, deren Gesichter durch gezielte Projektionen vermenschlicht werden. Dadurch entsteht eine absolut verblüffende Illusion.

Magdalena Kunz, Johnny und Daniel GlaserDie Künstler und eine ihrer Arbeiten: Magdalena Kunz, Johnny und Daniel Glaser: Bild: Jeremias Heppeler

Auf den ersten und auch auf den zweiten Blick wirken die Figuren, die stetig kommentieren und untereinander interagieren, regelrecht real. Dem Rezipienten, der es gewohnt ist, Künstler und Werk problemlos zu trennen, wird der sichere Boden unter den Füßen weggezogen. Das menschliche Auge wird von Glaser / Kunz gezielt hinters Licht geführt und die Wahrnehmung kollabiert. Erst später erkennt man die dezenten Glitche im System, die Ecken und Kanten der Projektionen, den imitierenden Charakter der Gestalten und der Moment des Erkennens führt zu einer unbekannten Auseinandersetzung von merkwürdiger Intensität. Eine durch und durch analoge Form der Virtual Reality.

„Es ist wirklich die Verwischung zwischen den Medien. Das ist typisch für die zeitgenössische Situation. Das wir nicht wissen, sind wir in einem Theater oder stehen wir vor einer Skulptur oder sehen wir eine Projektion. Welches Bild machen wir uns von uns selbst? Das ist die grundlegende Frage." - Markus Landert (Museumsleiter).

Der aktuellen Ausstellung „Ich ist ein anderer" im Kunstmuseum Thurgau gelingt durch komplexe und zielgerichtete Anordnung verschiedenartiger Arbeiten innerhalb der Kartause zudem ein effektiver Brückenschlag zwischen historisch aufgeladenem Ort und zeitgenössischer Schau. Dieser mündet in einem gegenseitigen Kommentar, von welchen beide Seite spürbar profitieren. Auch „Jonathan" hat seinen Weg nach Ittingen gefunden und wird hier selbstreferentieller Teil der aktuellen Sammelausstellung „Menschenbilder". Eine weitere Figur ist in der Klause eines Schweigemönchs platziert. „Franziska" ist zweigeteilt, schizophren, im kreisenden Dialog mit sich selbst. Sie erscheint abstrakter als die anderen Arbeiten. Ihr Körper setzt sich aus verschachtelten Kisten zusammen, der Schädel ist gespalten. Das Menschenbild zersetzt sich unter dem gesellschaftlichen Druck und im Angesicht des drohenden Scheiterns in seine Einzelteile

„Für mich drückt sie ein Gefühl aus, das ich selbst auch kenne. Das Gespalten-Sein, das Hin- und-Hergerissen-sein." - Magdalena Kunz.

Zentral aber steht die namensgebende Installation „Ich ist ein anderer": Fünf Figuren sitzen auf gepackten Koffern. Auch hier: Krise! Der Identität, ganz offensichtlich. Der Gesellschaft, mindestens hinterlegt. Denn die Protagonisten sind nur auf den ersten Blick Individuen – in Wirklichkeit setzt sich jede Figur aus drei Vorbildern zusammen und wird so zur synthetischen Hydra, zum artifiziellen Golem. Die Figuren der Installation sind einer stetigen Transformation und einer fast zärtlichen Überlagerung unterworfen. Denn: Ich ist ein anderer. Aber auch: Ich ist alle. Oder keiner. Oder alles gleichzeitig. Je länger man sich in diesen Raum aufhält, desto mehr verblüht und entpuppt sich die Installation zur Performance, desto stärker verändert sich die Involvierung des Rezipienten, der zunächst nur beobachtet, dann aber regelrecht aufgesogen und absorbiert wird.

„Mit der virtuellen Performance, können wir Aussagen treffen, die ansonsten nicht möglich sind. Es geht hier um Metamorphosen von alt zu jung, von der Frau zum Mann. Das ist ein Bild, das uns immer stark beschäftigt hat. In einer Gesellschaft, die vom Einzelnen ganz stark verlangt, verschiedene Rollen anzunehmen, stellt sich die Frage: Wer bin ich eigentlich? Und anscheinend sind wir alle multiple Persönlichkeiten." - Daniel Glaser.

Ganz entscheidend für das Grosse und Ganze der wirklich bemerkenswerten Ausstellung, erscheint aber die Entscheidung, die anthropomorphen kinematografischen Figuren mit Installationen zu ergänzen, die das Mensch-sein nicht ins absolute Zentrum stellen. Wir sehen eine Uhr, deren Zeiger sich aus dem System lösen und ebendieses dann gezielt zur Implosion führen – in Anlehnung an das Vanitas-Motiv, das auch in der Kirche der Kartause spürbar ist. Wir sehen eine lose Handbewegung, die mit Kreide eine Kreisbewegung zeichnet – eine Dekonstruktion des Mediums Films in seine Bruchstücke, solange bis nur losgelöstes Bild bleibt und das schiere Zeichen die Bedeutung verschluckt.

Im Erdgeschoss aber ist ein Schwarm kinematografischer Raben gelandet. Und hier entfernt sich Glaser / Kunz von allen Versuchen der Täuschung, hier löst sich nun ihr vermeintlich konkretes Sprachsystem vollends auf: Die Projektoren und Schaltkreise, die bei den anderen Werken meisterhaft versteckt sind, liegen hier brach im wirren Kabelchaos. Und wenn sich der Schwarm erhebt und sein Flügelschall durch die epochalen Kellerräume tönt, bleibt am Boden nur die Hülle der Skulptur. Und uns wird klar: Wirklich alles ist Illusion. Vor allem die Illusion selbst.Willkommen im Rabenland:Installation von Glaser/Kunz im Erdgeschoss des Museums. Bild: Jeremias Heppeler

Videobeitrag zur Ausstellung von Jeremias Heppeler

 

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