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von János Stefan Buchwardt, 02.03.2017

Lyrik als vierte Gewalt

Lyrik als vierte Gewalt
Die Schweizer Slam-Poetin (Filmemacherin, Schauspielerin, Autorin) Lara Stoll, aufgewachsen in Rheinklingen/TG: selbstinszeniert, sprachexperimentell, immer nur so gut wie der letzte Satz ... | © Pressefoto: Jonas Reolon

Der Raum für Dichtung ist klein, im Thurgau, in der Schweiz. Unzählige von uns kommen gut ohne sie aus, selbst wenn mitunter von einer Lyrik-Renaissance gesprochen wird. Wie antiquiert oder hip ist man, wenn man Gefallen findet oder wecken will an Slam-Poeten, aktuell Dichtenden und verstaubten Klassikern? Wir bringen Licht ins Schattendasein.

Dichtung - eines der faszinierendsten Kapitel der Sprachkunst. Alles in allem eine verschwindende Minderheit, die damit ernsthaft etwas anzufangen weiss. Der Versuch einer Bestandesaufnahme reizt in jedem Fall. Einschätzungen, Mutmassungen, Unverfrorenheiten. Real, literarisiert, zartfühlend. Vorderhand aus dem Blickwinkel heimischen Kantonsareals, mit dem erklärten Ziel wundersamer Reanimation des Gegenstands. Wie blauäugig ist es zu glauben, literarischer Artenschutz bräuchte nur die gute Kombination aus Enthusiasmus und Diplomatie? Standhaft und entfesselt, ein wechselseitiges Gemisch, um werbend Liebhaber-Neuzuzug auf den Plan zu rufen.

Was sich kleinräumig rapportieren lässt, weist auf die Frage nach Beispielhaftigkeit hin, nach Eingebundenheit in einen gesamthelvetischen, wenn nicht anthropologischen Zusammenhang. Gemeinsam lyrischen Feuereifer entzünden, (mythische) Innenwelten zurückerobern - vielleicht vermag das die Herzen der Unwissenden zu brechen. Es gilt, die Wahrnehmung exquisiten Schriftguts zu verfechten. Selbst resignativen Schusswaffensuizid würde Lyrik noch auffangen, wird doch insbesondere der Tod durch Dichtung gestaltet und im günstigen Fall besiegt. Wie unendlich geistesgegenwärtig, wenn Michael Ende überzeugt behauptet, ein gutes Gedicht sei nicht dazu da, die Welt zu verbessern - es sei selbst ein Stück verbesserte Welt.

Gedichte als Randprodukt

Besessenheit für ein intuitives postmodernes oder klassisches Verständnis scheint spärlich gesät. Im konsumsüchtigen Alltag stösst man auf Ignoranz, nicht nur im mostindischen Gliedstaat. Jochen Kelter, sachverständiger Exponierter in Sachen Lyrik, hält nüchtern fest: «Im Thurgau gibt es seit der Eröffnung des Bodman-Literaturhauses in Gottlieben im Jahr 2000 zumindest einen Ort, an dem regelmässig, das heisst mindestens zweimal im Jahr Lyrik-Lesungen stattfinden.» Er selber betreue sie. Neben vereinzelten Zeitungsblättern geben schweizweit verstreute Literaturhäuser dem Gedicht eine offizielle Chance. «Die ‹Ostschweiz am Sonntag› druckt dank dem unermüdlichen Rainer Stöckli immer wieder ein Gedicht - wohl um auf das Altmodische hinzuweisen: in Maschinenschrift.» Rührend und gut gemeint.

Kelter weiter: «Aber ansonsten ist das Gedicht, einst die Krönung der literarischen Gattungen, hier wie überall unter dem Druck von Slam-Poetry, Performance und neuen Kurzmedien wie Twitter und anderen zu einem Nischenprodukt geschrumpft.» Warum aber sollte, fragen wir, gerade die Königsdisziplin der Literatur dem Untergang geweiht sein, in einer Welt, in der Sprechtheater und Oper seit langem überlebt haben? Verwandte Formen - Slam-Poetry ist längst literarisches Genre - als erdrückende Konkurrenz zu betrachten, ist falsch. Dass Lyrik an sich nie eine Gattung des Mainstreams war, ist hinlänglich bekannt. Auf Internetportalen wie «Pro Lyrica» erlebt das Ausloten von Grenzen der Sprache zumindest einen Aufschwung.

Das schmucke Bodman-Literaturhaus in Gottlieben: Hier findet Lyrik statt als bitter-süsse Betäubung logischen Verstehens, als Frühlingsrauschen in der Dämmerung unserer Hirnwindungen. Bild: János Stefan Buchwardt

Es wäre fatal, den Vorurteilen des Vorgestrigen und Abgehobenen damit zu begegnen, ein Hohelied auf das Gedicht im 21. Jahrhundert anstimmen zu wollen. Gnädig verzogene Mundwinkel können dennoch nicht leugnen, dass das Versmass seit Menschengedenken mitbestimmender Faktor ist. Alles ist auch Musik. Sie, die Slam-Literatin Lara Stoll, reime sehr selten. Wenn es passiere - auch bei Liedern - dann seien das «happy little accidents», wie Bob Ross so schön sagen würde, so Stoll. Wer erst mit dem Ableben eines Elternteils nach adäquaten Gedenksprüchen sucht, ist geringstenfalls dann in die Falle der Auseinandersetzung mit sprachlicher Essenz gegangen. Unweigerlich stösst man auf Hochwertiges, das Wunschträume und Auswege untermauert, sogar Sinnkrisen aufzufangen weiss. Auch Liebesgefühle schreien nach Verbalisierung. Ach was, verstaubt und stur rezitiert, Generationen von Nachwüchslern haben sich positioniert: Wortsport, Dichterwettstreit, lyrische Kissenschlacht. Hölderlin würde heute anders schreiben, Schiller ihn anders einschätzen. Nicht nur in hiesigen Niederungen mag man sich einseitig auf dem Boden durchschnittlich kommerzieller Sichtweisen bewegen. Herrje, Hochkultur müsse wenigstens Status vermitteln, der Handel damit Einnahmen generieren!

Eine Recherche-Pointe ganz anderer Art: Auf höfliche elektronische Anfrage gibt die engagierte Frauenfelder Buchhändlerin Marianne Sax zu verstehen, sich zwar für die Kompetenzvermutung zu bedanken, zum Thema Lyrik und Poesie wisse sie aber rein gar nichts zu sagen - und schon gar nicht in Bezug zum Thurgau. Ins Schwarze getroffen, Niete gezogen? Oder nur spontan feminines Kalkül zwischen bewusst postuliertem Bonmot und heiligem Ernst? Ein zu verkraftender Rückschlag.

Marianne Sax - Buchhändlerin mit Leib und Seele - präsentiert aufgrund hartnäckiger persönlicher Nachfrage, was sich gerade noch verkauft: Publikationen mit Titeln wie «Gedichte, die glücklich machen» und «Ich bin so knalllvergnügt». Bild: János Stefan Buchwardt

Und gern ein (parodistisch-)kritischer Blick auf unsere lokal greifbaren Kulturproduzentinnen und -erzeuger mit geringer, bedeutender und noch mehr Reichweite: Pauschalem Verdacht verstiegener Liebhaberei setzt etwa ein Ulk und Melancholie aufbietender Märstetter aus Graubünden, nämlich Hans Gysi, spürbar lustvolle Schwerkraft entgegen. Wo immer Morgenstern- und Ringelnatz-Bezüglichkeiten werbetechnisch herhalten müssen, kommen Verdachtsmomente auf: Hascherei nach Gewogenheit? Gegenteilig mag die grillenhafte Steckborner Eigenverlagsdichterin Lili Keller unter einem Publizitäts- und Popularitätsmangel leiden und sich so für bärbeissigen Rückzug entschieden haben. Dabei will ein Sich-mehr-schlecht-als-recht-Verkaufen längst nicht heissen, qualitativ mehr verwerflich als vortrefflich zu sein. Grössen der Gilde wissen davon ihr eigen(tümlich) gestimmtes Liedchen zu singen. Unbestritten, dass respektable Zu-Dichterfürsten-Gereifte wie oben zitierter Jochen Kelter zwischen Ermatingen und Paris pendeln müssen. Ein Leben mit und über die Grenzen. Und so rechtfertigt auch das reizvoll obskure, gleichzeitig sachlich imaginative Wesen unserer lieben Frau Zsuzsanna Gahse den Akt des Bestehens auf das für mitteleuropäische Augen skurrile Doppelbuchstabenpaar in ihrem Vornamen. Die liebend gern schrullengeschwängert schreibende Müllheimer Magyarin kommt hier noch zu Wort.

Phantasie und Ausdruckskraft sind keine Grenzen gesetzt

Wo Ausdrucksjonglagen ins kryptisch Gestelzte abdriften, mag verquerer Ton auf schwindelerregendes Kopfschütteln stossen. Das sei gerechtigkeitsliebend angefügt - selbstkritisch wie auch -verliebt. (Letzteres sind sie/wir nicht so selten, die Schreibenden.) Es gibt schlichtweg keinen vorgeschriebenen Grad dafür, wie phantasie- und sinnvoll dichterische Ausdruckskraft sich gebärden darf. Das Fehlen fester Qualitätskriterien darf andererseits nicht zum Beliebigkeitsfreipass verkommen. Eine Binsenweisheit aus dem Umfeld publizistischer Forschung: Leserschaften erfolgreich auf Kopfhöhe ködern zu können, unterliegt immer auch beidseitigem Bewusstsein für die verblüffende Relativität individual geistigen Spielvermögens. Geschunden der Geist, der überstrapaziert, berauscht der, der die Quantensprünge literarischer Bedeutereien bereitwillig mitmachen wird.

Dem Wechselbad-Charakter des Artikels gehorchend, eine gramgebeugte Situationsbeschreibung mehr, vonseiten Seiner hochfürstlichen Dichter-Durchlaucht, wenn sie ausholt: «Auch renommierte Poeten publizieren in kleinen Verlagen, weil sich die grossen keine Poesie mehr leisten wollen. Zum Teil hat sie sich das aber auch selbst zuzuschreiben.» Öffentliche Diskurse über Poesie fänden nicht mehr statt. Die Lyrik habe bei vielen jüngeren Autorinnen und Autoren Züge eines nur noch kopfgesteuerten ästhetischen Eklektizismus und Hermetismus angenommen. Jede sinnliche, sprachlich lustvolle Seite gehe da ab.

Jochen Kelter, faszinierender deutsch-schweizerischer Homme de Lettres, dessen lyrisches Werk durch hochgeistige Eleganz, Knappheit und Sinnlichkeit besticht. Bild: Verlag Fraktura, Zagreb

Und doch, Poesie im Thurgau ist Teil weiterer achtenswerter Anstrengungen, die beispielsweise von der Kulturstiftung des Kantons initiiert und getragen werden. Wir sprechen nicht von den inzwischen wieder eingestellten Frauenfelder Krimi- und Mordstagen. Wir meinen die für viele zu Unrecht weniger prickelnden Frauenfelder Lyriktage, 1991 gegründet. Im Jahr eines spektakulären Leichenfundes übrigens, um den Bogen zurückzuschlagen. Was könnte ein vor mehr als 5000 Jahren Getöteter aus der späten Jungsteinzeit mit Lyrik am Hut gehabt haben? Die vierzehnte Präsentation in der Garnisonsstadt findet übrigens im kommenden Herbst statt. Basel zum Beispiel hat diese Lyrikfestival Marke gerade erst hinter sich. Wo ein Gefriergetrockneter aus dem Ötztal punktuell zum überragenden Medienereignis werden konnte, dürfte das ursprünglich vom Schriftsteller und Buchdrucker Beat Brechbühl angestossene und mitorganisierte Frauenfelder Karussell seinen warmen Tauregen doch endlich über schweizweitere (vereiste) Landstriche versprühen. Mit angesehenen Literaten wie Raoul Schrott, Nora Gomringer und Urs Engeler bot die Gastkuratorenliste bisher Erkleckliches auf. Die eigentlich gefeierte Liga überzeugt nicht zuletzt durch den Umstand ihrer Internationalität.

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Durch die Brille der Wirtschaftlichkeit

Zahlenmässig exklusive, sprich berechenbar dünne Zuschauerrunden bleiben. Fluch und Segen vielleicht, dass sich vereinzeltes Lyrikpotential vor der eigenen Haustür an abgesicherten Werten messen lassen muss. Wo Etablierte Programm sind, kämpfe man auch für den Erhalt des heimatlichen Kunstplateaus. Das seinerseits schmückt sich unaufgeregt mit Versprengseltem: engagierte Kleinst-, auserlesene Kleinverlage. Dass sich die Branche hält, verdankt sie den Faktoren Professionalität und Idealismus. Namen wie Brechbühl (bereits gefallen) vom Waldgut Verlag und Bruno Oetterli Hohlenbaum mit seiner um Schuhgrössen schmächtigeren Edition Signathur dürfen nicht fehlen. Die lebender und verstorbener Autoren wollen jedenfalls ihrer Ausserordentlichkeit, Gegensätzlichkeit oder des Kontroversen wegen genannt sein: Christian Uetz, Sprachwollüstiger aus Egnach, der vielgestimmte René Marti, der skrupellose «Bauerndichter» Alfred Huggenberger. Ausgelassene Thurgauer Autorinnen, vergessene Autoren mögen verzeihen.

Eine Exkursion in die bayrische Landeshauptstadt: Wir alle wissen, die Branche hat es schwer, zumindest nach dem durchwachsenen allgemeinen Interesse zu urteilen. Um sich für Poesie einzusetzen, bedürfe es deshalb nicht nur eines dominanten Willens (der ja nicht gleich als Welt herhalten muss), sondern auch inhaltlicher Überzeugung. So hält der Münchner Kleinverleger (scaneg Verlag) Matthias Klein fest. Wenn dies so ist, dann auch bei gleichzeitiger Erkenntnis, dass er gehalten sei, nicht nur persönlichen Interessen nachzugehen, sondern sie auch in Bezug zu setzen zur Verkäuflichkeit und den Interessen der Autoren. Da ist sie wieder, die verflixte Marktorientiertheit, die auch der regen Lyriklandschaft unseres Alpenstaats zusetzt. Die Unmöglichkeit, den Spagat zwischen Wertschätzung und rentablen betrieblich-organisatorischen Leistungen zu bewältigen, spricht für Förderungsmassnahmen, wie sie exempli causa das Migros-Kulturprozent im Hinblick auf die Schweizer Literatur und insbesondere die (moderne) Lyrik vorsieht.

Aufführungssaal im Bodman-Literaturhaus: Ist die traditionelle Lesung mit Tisch und Wasserglas in den Zeiten digitaler Poesie und der Poetry-Slam-Bühnen nicht längst überholt? Bild: János Stefan Buchwardt

Wie verdienstvoll grundsätzlich, im Dachstock des Gottlieber Bodman-Hauses in regelmässigen Abständen erlesenen literarischen Glanzlichtern frönen zu können. Gedichtetes findet an diesem schönen Ort eben auch angestammten Platz. Wir hörten davon. Auch hier für bescheiden wenige Dutzend Menschen aus den Angeln gehoben. Die Überschaubarkeit sensibler Kreise darf trotzdem nicht in Widerspruch zur kulturträgerischen Unverzichtbarkeit genau jener stehen, die Rezeption und Verbreitung kunstvoll komprimierter Gedankenessenz sichern helfen. Alles darf orchestral zusammenspielen. Weltpolitisch Verstelltes sowie privates Ungemach ziehen immer neue Verinnerlichungen, Kompensationen nach sich. Fraglos steckt das Grundgesetz notwendiger Balance und selbstheilenden Kräftespiels dahinter. Lyrik ist Kammerensemble. Je virtuoser, umso einzigartiger und tiefenwirksamer. Sie hat Berechtigung. Ideal des lebendigen Wortes? Ja, immer noch. Tote Tradition? Entschiedenes Nein. Quintessenz: Nachdrückliche Ja-Parole für das Durchboxen exklusiver Kunstäusserungen. Mit und neben den Medien ist Kunst (und damit auch Lyrik) signifikante vierte Säule im freiheitlichen Staatswesen.

Strophen auf Katastrophen

Erklärtermassen hier und überall, Musikalität als Gleichgewichtsfaktor ist unverzichtbar. Zitat Zsuzsanna Gahse: «Von Bob Dylan mag man halten, was man will, aber der Nobelpreis an ihn unterstreicht, dass Lieder auch Lyrik sein können. Und: umgekehrt steckt im Gedicht die Musik. Die Lyra, Leier, ist immer in der Nähe der Lyrik (und der Sprache überhaupt).» Buchstaben werden zu Noten und umgekehrt. Dem Attribut des Stilvoll-Schönen Tribut zollen wollen, sichert den Fortbestand von Rhythmik und Versinnbildlichung der Gedanken, die uns ausmachen. Strophen auf Katastrophen: Dichtung nach Auschwitz muss (möglich) sein. Im Glauben an ein durchaus berechtigtes Fortbestehen wortversierter Akte wird Alltag erträglich(er). Modernität und Varietät tun dem Wunsch nach wahrhaft empfundener Harmonie gut. Nicht nur, dass sie den ehernen Künsten heimlich schmeicheln, sie sind schlichtweg belebend bekömmlich - wie steter Wodka für die russische Seele. Auch Ewig-Verbrieftes bedarf des profanen Unterwäschewechsels. Die Dressur der Sinne, ob nun mit Salven von Vorbehalten oder Unverständnis belegt, gebiert die den Zeiten und Epochen zugehörigen Sinnlichkeiten und musischen Überlebensformen. Basta.

Die Lyrik-Auslage im «Bücherladen Marianne Sax» zu Frauenfeld böte noch Raum für geistige Höhenflüge. Bodennähe unterer Regalbahnen verliehe so etwas wie Bodenständigkeit. Bild: János Stefan Buchwardt

Bereits haben also Spoken-Word-Fechtereien althergebracht Hehres unterwandert. Die Tür zu eigensten schöpferischen Kräften, zu neu bespielbaren Wertewelten steht immer offen. Beispielgebend für den jungen weiblichen Produzentenpart mögen die schon aufgegriffene Lara Stoll, Titelfrau im Bild zuoberst, und die passionierte Veganerin Tanja Kummer stehen. Beide preisgekrönt, jede auf ihre Art gerade auch spritzig lyrisch. Man tummelt sich mitunter zeitgemäss eisenwerklerisch und kulturportal-bloggend durch die Landstriche des Apfelkantons. Die Vergabe des Thurgauer Kulturpreises 2011 an das junge Poetry-Kraftwerk Stoll war womöglich wegweisend. Sie hat polarisiert, denn die Gewohnheiten gingen seit 1986 dahin, nur zuverlässig Routiniertes in gesetztem Alter auszuzeichnen. Grundsätzlich mag es auch schwer sein, die wenigen Rosinen aus kleiner Klientel zu erschnuppern.

Lassen wir unser in sich versunkenes Covergirl in klassischen Adidas-Latschen auf die Frage, was ihr persönlich Lyrik bedeutet, konstatieren: «Immer mehr. Als Slam-Poetin habe ich fast ausschliesslich Prosa geschrieben. Aber seit ich mich verschiedenen Musikprojekten hingebe und auch Songs schreibe, widerfährt mir da ein grosser Wandel. Es fühlt sich schneller etwas richtig oder falsch an (ein Wort, eine Zeile, eine Strophe), das kann eine grosse Hilfe sein. Ein ganz neues Schreibgefühl: Es ist intuitiver, gleichzeitig ist man sorgfältiger. ... Ich weiss, das klingt etwas eigenartig, aber Lyrik ist etwas sehr Individuelles, finde ich.»

Und bei einer letzten Zigarette:

Vergessen wir die grosstuerische Paradiessuche am Untersee. Pauschal hingeträumte Poesie darf und muss radikal entzaubert werden, das gibt neue Schubkraft, verhindert ein Flame-out. Vorsicht ist da geboten, wo kaum einer mehr die Sachkenntnis besitzt oder erwirbt, zwischen Amateuren und Profis, zwischen Anspruch und Dürftigkeit zu unterscheiden. Nennen wir es die Kehrseite metallener Schaumünze, was eben auch der Lyrikszene nicht fremd ist: inszenierte Ausflucht oder schamloses Vorpreschen. Wo ein Jochen Kelter uns das Gegenteil vorlebt, die Vergangenheit, Krieg und Leiden pur mitzudenken versucht, da ist doch die wellentanzende Akrobatik rappender Jungspunde, trendiger Slammerinnen und Freestyler lange schon vom Durst nach Lebenswahrheiten unterspült.

Xóchil A. Schütz - lyrisch-performative Slammerin aus Deutschland am kleinen Lyrikfestival «Phöbus Poësie» des Münchner scaneg Verlags im letztem Dezember in Konstanz. Bild: Stefan Postius

Die Publika mögen sich äusserlich transformieren, am Hunger nach Schönheit aber, an der Sehnsucht nach Beimischung universeller Erfahrungsschätze kommen sie nicht vorbei. Kommerz ist übrigens kein Schimpfwort. Bleibt zu hoffen, der Wandlungsreichtum und die Zukunft rhythmisch gebundener Rede mögen das Verscharren letzten menschlichen Gebeins überdauern. Die Dame in Schlappen weiss vom Zauber der Existenz. Gern ihr das letzte Wort: Ob nun Lyrik oder Poetry-Slam, «letzten Endes ist beides eine Plattform, eine Ausdrucksform, die ganz persönlich genutzt und gestaltet werden kann, ob politisch oder voller Nonsens, aber auf jeden Fall mit Überzeugung und Liebe, denn sonst liest keiner dein Gedicht zu Ende oder hört dir zu.»

Eine Bühne für Gedichte - die Frauenfelder Lyriktage

Seit 1991 gibt es die Frauenfelder Lyriktage, alle zwei Jahre auf Intitiative der Kulturstiftung des Kantons Thurgau im Theatersaal des Eisenwerks in Frauenfeld durchgeführt. Laut des Stiftungsteams, hier im Speziellen vertreten durch Frau Gioia Dal Molin, findet die Poetry-Performance im September 2017 zum 14. Mal statt. Am 15., 16. und am 17.9. werden nationale und internationale LyrikerInnen im Eisenwerk zu Gast sein. Momentan laufen die Anfragen. Ein erster Name darf fallen: Als Kuratorin und künstlerische Leiterin des diesjährigen Festivals konnte die Literaturvermittlerin Anna Kulp verpflichtet werden, die seit mehreren Jahren auch Co-Leiterin der Literaturfestivals in Leukerbad ist. (Anna Kulp ist auch Projektleiterin der «Poetischen Schweiz». Ziel des Projekts ist es, die Wahrnehmung der Lyrik zu stärken und die aktuelle «Poetische Schweiz» abzubilden.)

 Video: Raoul Schrott bei den Frauenfelder Lyriktagen


Lara Stoll auf der Bühne: Video von einem Auftritt aus dem Jahr 2013


 Jochen Kelter liest: "Jetzt mache ich einen Satz" (SWR 2, Lesezeichen)

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