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von Jeremias Heppeler, 05.04.2017

Ohne scheiss, ey!

Ohne scheiss, ey!
Flurin Jecker liest aus Lanz in der Eisenbibliothek Schlatt | © Jeremias Heppeler

Gerade mal 27 und schon ein Literatur-Shooting-Star: Der junge Berner Flurin Jecker stellte jetzt bei der Reihe "Erzählzeit" in der Eisenbibliothek Schlatt seinen Debütroman vor. Und wie.

Von Jeremias Heppeler

Lanz, die titelgebende Hauptfigur des Debütromans des Schweizer Autors Flurin Jecker, erscheint als ein Typ, den man nie so richtig zu fassen bekommt. Lanz ist nicht jener typische Aussenseiter, der das Genre der Coming-Of-Age-Geschichte über viele Generationen prägte. So richtig dazu gehört er aber auch nicht. Lanz ist ein Lautsprecher und Draufgänger, er kifft und raucht und hört Nirvana. Aber er ist eben auch zerrissenes Einzelkind, so einer, der seine Gedanken nie beisammen halten kann und ein wenig hilflos ist, wenn es darum geht, Mädchen anzusprechen. Der 14-Jährige sagt Sachen wie „...da bin ich eh nicht normal, weil es mir egal ist, ob ich gewinne oder verliere" und macht Sachen, die „die ultimativ sinnlos sind.".

In der Ambivalenz seiner Hauptfigur liegt die grosse Stärke und Eigenheit von Jeckers Text, der vom Autor am vergangenen Montag im Zuge der „Erzählzeit ohne Grenzen" in der Eisenbibliothek Schlatt vorstellte. Das ehemalige Klostergut markiert eine komplexe und doch irgendwie widersprüchliche Location für die Lesung eines so jungen Autoren. Und ebendieser Kontext des dezenten Widerspruchs, der sich auch auf Textebene widerspiegelt, macht diesen Abend erst so interessant. Springen wir also direkt rein: Der Saal ist alsbald bis zum letzten Platz gefüllt, ein Grossteil des Publikums mindestens doppelt so alt wie der Autor – ein Detail, das später noch wichtig werden wird.

Von der Naturwissenschaft zur Literatur

Der 1990 geborene Jecker liest schnell, aber versiert. Das passt zum träumerischen Sog seines Romans, der seine Kapitel in Blog-Artikel teilt, weil Lanz um seine große Flamme zu beeindrucken, ausgerechnet einen Kurs übers Bloggen belegt. Es geht also auch ums Schreiben an sich, ganz klar. Als Therapie oder als Lebensentwurf. Der Autor selbst hatte zunächst verschiedene Naturwissenschaft studiert, ehe er sich am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel einschrieb, um... Ja, um was denn eigentlich? „Um zu lernen, wie man Bücher schreibt?", vermutet der Schaffhausener Buchhändler Georg Freivogel, der den Abend moderiert. „Das ist natürlich falsch!", antwortet Jecker. „Man lernt in Biel, wie man überhaupt schreibt und wie man leben kann, wenn man unbedingt schreiben will. Nicht im Sinne von Geld verdienen, sondern im Sinne von nicht vereinsamen, zum Beispiel."

Im Gegensatz zum von ihm erschaffenen Lanz, der seine Texte bewusst unter Verschluss hält, wagte Jecker mit seiner überarbeiteten Abschlussarbeit den Sprung in die Öffentlichkeit. Natürlich folgt er hierbei (unbewusst oder bewusst) bestimmte Vorbildern. Im Erzählstil erkennen wir Parallelen zu J.D. Salingers „Der Fänger im Roggen", die einfach Sprachdynamik erinnert an „Tschick" von Wolgang Herrndorf, der Dorfkontext an „Auerhaus" von Bov Bjerg. Doch genau dieser Momente des Wiedererkennens zeichnen Coming-Of-Age-Geschichten aus, die einen ihrer Ursprünge im Bildungsroman der deutschsprachigen Literatur verankern (etwa in Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich"). Die Settings der Geschichten rund ums Heranwachsen mögen hier zwar denkbar unterschiedlich sein, im Kern ähneln sich die Motive aber meistens massiv: Die Protagonisten sind auf der Suche nach sich selbst und suchen händeringend nach Identität, reiben sich an allen Autoritäten im Allgemeinen und an ihren Eltern im Speziellen und treffen auf ihre erste, nicht selten unerfüllte Liebe.

Jecker entwickelte eine Sprache zwischen den Generationen

Für den Leser bedeutet dieses pubertären Netz eine Zeitreise, ein Sprung in die Vergangenheit, weil wir doch alle ähnliche Erfahrungen machten und nicht selten wirkt das Wiedererkennen der fremden Fehler, die auch unsere eigenen waren, regelrecht kathartisch. Jecker entwirft also einen 14-Jährigen, der gleichermaßen er selbst im selben Alter, aber eben auch er selbst zum Zeitpunkt des Abfassens des Textes ist. Trotzdem – oder gerade deshalb – spricht Lanz eine Art literarische Jugendsprache. Ein Sprache also, die zwar viele Verweise auf die wirkliche Sprachrealität der Generation Snapchat hat, aber eben auch eine Sprache, die laut Jecker „kein Jugendlicher so benutzen würde."

In der Diskussion zwischen den beiden Leseblöcken werden dann die Sprache und die Frage, wer denn jetzt überhaupt erzählt (der Lanz oder Jecker) zum entscheidenden Fixpunkt. Moderator Freivogel gibt offen zu, dass er sich zunächst an ihr (der Sprache) und das ständige „..., ohne scheiss, ey!" gestört habe. Eine Wortmeldung aus dem Publikum verteidigt sie (die Sprache) aber explizit. „Das muss so sein, das passt. Ich habe fast gedacht, da spricht mein Enkel. Der redet nämlich auch so. Und auch daran musste ich mich gewöhnen." Jecker selbst verfolgt die Diskussion entspannt. Manchmal lacht er. Manchmal widerspricht er. Manchmal wirkt er fast so, als würden seine Gedanken ganz Lanz-typisch abgleiten. Und da bemerken wir als stummer Beobachter, dass sie eben beide erzählen, der Erzähler Lanz und auch der Autor Jecker und das wir auch genau deshalb den „Lanz" lesen sollten! Und so ein wenig Karthasis hat ja noch keinem geschadet.

Info: Die „Erzählzeit ohne Grenzen" läuft noch bis zum 9. April. Alle Autoren und Leseorte finden sie unter www.erzaehlzeit.com. Flurin Jeckers Debütroman „Lanz" erschien im Hanser Literaturverlag und ist auf der Verlagshomepage zu kaufen.

 

Nachgefragt - Interview mit Flurin Jecker

Herr Jecker, Ihr Debütroman "Lanz" erzählt eine klassische Coming-Of-Age-Geschichte mit digitalen Einflüssen (das Bloggen spielt eine große Rolle). Sind Sie ein Fan des Genres?

 

Ich würde diese Art Geschichten nicht als Genre zusammenfassen wollen, sondern als Tradition. Und diese Tradition interessiert mich schon.

 

Gab es konkrete Einflüsse? Wieviel eigene Biographie steckt da drin?


Selbstverständlich ist mein Leben ein Einfluss, das geht ja gar nicht anders. Als ich 14 war – so alt wie Lanz – war ich jedoch nicht unglücklich und fühlte mich – im Gegensatz zu ihm – durchaus lebendig. Ich war kein Einzelkind. Zudem hatte ich in seinem Alter bereits eine Freundin. Das Gefühl, das Lanz hat, entspricht eher einer Realität, die ich hatte, als ich das Buch mit 25 schrieb.

 

Sie haben zunächst verschiedene Naturwissenschaften studiert und dann aber ganz konkret auf literarisches Schreiben umgeschwenkt - was motivierte sie zu diesem Schritt?


Es war kein Schritt, sondern eine Entwicklung, die sich über sechs Jahre hinzog. Und zwar, in dem ich sehr, sehr viel schrieb.

 

Wie muss man sich ihren Studienalltag am Schweizerischen Literaturinstitut und den Studiengang "Literarisches Schreiben" vorstellen?


Am Literaturinstitut hat man Platz und Legitimation zum Schreiben – so wie man will. Man findet dort Leute, die das gleiche machen wie man selbst – und mit denen man sich austauschen kann. Es ist da im Grunde nicht anders, als an jeder anderen Kunsthochschule auch. Mit „Lanz" schloss ich schliesslich ab...

 

Jetzt also "Lanz", ihr erster Debütroman. Wie gestaltete sich der Arbeitsprozess für Sie?


Lanz entstand durchs Schreiben. Ein Jahr schrieb ich, bis ich die Sprache und die Ausgangslage hatte. Und ein weiteres Jahr schrieb ich, bis das Buch fertig war. Scheitern hat mit Erwartungen zu tun. Dass ich den Lanz schreiben werde, stand kaum je ausser Frage. Und an das, was danach kommen könnte, dachte ich nur sehr unkonkret.

 

Was für ein Gefühl ist es für einen jungen Autor, sein erstes Buch in der Hand zu halten? Und wie geht es jetzt weiter?


Natürlich ist es schön, ein eigenes Buch in der Hand zu halten, zumal es überhaupt schön ist, irgendein Buch in der Hand zu halten. Andererseits ist das Gefühl relativ unspektakulär. Man hat lange Zeit dafür gearbeitet – und das Buch ist dadurch langsam gewachsen. Die Sicht auf meine Texte hat sich dadurch nicht geändert. Wenn ich das Gefühl habe, ich könne nicht schreiben, kann mir ein bereits veröffentlichtes Buch nicht helfen. Gerade deshalb freue ich mich, bald in Ruhe wieder weiterschreiben zu können.

 

Fragen: Jeremias Heppeler

 

Links:

Leseprobe aus "Lanz" 

https://files.hanser.de/nagel-kimche/docs/20161219_20161219155525002_978-3-312-01022-6-Leseprobe.pdf 

SRF-Beitrag über "Lanz" und Flurin Jecker 

https://www.srf.ch/play/radio/buchzeichen/audio/flurin-jecker-lanz?id=8c72f905-5cfc-4c1c-a0a5-a820da962914 

Flurin Jecker auf Twitter

https://twitter.com/flurinjecker?lang=de 

"Der Blogger von Bern": Bericht aus dem Tagesanzeiger http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Der-Blogger-von-Bern/story/15202870 

Journalistische Texte von Flurin Jecker 

http://www.derbund.ch/stichwort/autor/flurin-jecker/s.html 

 

 

 

 

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