von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 10.04.2017
Willkommen im Establishment
Graffitis und Streetart waren mal die rebellischen Kinder der Kunst. Heute stehen sie wohlerzogen neben Klassikern in den Museen. Wer sorgt jetzt für die Rebellion?
Was zu tun ist, wenn einem die eigene Bedeutung zu Kopf steigt oder man von Dritten auf einen Sockel gestellt wird, den man nie betreten wollte, hat die Deutsch-Pop-Band Wir sind Helden 2003 sehr schön in ihrem Song „Denkmal" beschrieben: „Hol den Vorschlaghammer/Sie haben uns ein Denkmal gebaut/Und jeder Vollidiot weiß, dass das die Liebe versaut/Ich werd die schlechtesten Sprayer, dieser Stadt engagieren/Die sollen Nachts noch die Trümmer/Mit Parolen beschmieren". Mit anderen Worten: Man muss schon sehr achtsam mit seinen eigenen Werten und Prinzipien umgehen und darf sich diese Wachsamkeit auch nicht vom süsslichen Nebel des Ruhms einlullen lassen.
Ein bisschen so geht es seit einigen Jahren auch schon der so genannten Street-Art. Sie begann als raue, ungestüme Kraft im öffentlichen Raum und ist inzwischen längst musealisiert. Das liess sich auch am Wochenende bei der Kunstnacht in Kreuzlingen und Konstanz wieder beobachten. Aber was wird aus einer Kunstform, die man ihrer natürlichen Umgebung entreisst und stattdessen versucht, in einem ganz neuen Lebensraum heimisch zu machen?
Eine Konsequenz daraus ist, dass zum Beispiel die Graffitikunst im Establishment angekommen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann das geschehen würde, nachdem es in Wien schon ein eigenes Museum für die Street-Art gibt und selbst die renommierte Frankfurter Kunsthalle Schirn schon 2013 eine Ausstellung zum Thema im Programm hatte. Eine Frage, die sich daraus stellt, lautet: Was macht diese Musealisierung mit einer Kunstform, die mal angetreten war, Sprachrohr für Rebellion und Protest zu sein? Die Befürchtung ist: Wenn alles legalisiert und in Kunsthallen aufgenommen wird, dann nimmt das der Bewegung die Spitzen. Die Vereinnahmung dieser Kunstform durch die Gesellschaft könnte ihre Botschaften banalisieren.
Die Frage ist: Wer ist das nächste freche Kind?
Die Streetart-Szene selbst ist zerrissen. Einerseits gibt es da diesen Stolz auf die Anfänge als Protestbewegung, andererseits geniessen viele Sprayer heute auch die Umschmeichlungen des Kultur-Establishments. Einerseits wird nach wie vor Wert auf die Anonymität der Künstler gelegt, andererseits wollen auch Graffiti-Künstler Anerkennung für ihre Arbeit und versuchen die Anonymität durch Unverwechselbarkeit der Arbeiten aufzulösen. Es ist ein Dilemma, das wahrscheinlich nur jeder Künstler für sich lösen kann.
Stellt sich nur die Frage - wer übernimmt jetzt die Rolle, die die Streetart mal in der Kunst hatte? Also jene Rolle des irgendwie komisch-aufmüpfigen, manchmal auch bisschen schmuddligen Kindes, das auch mal freche Fragen stellt. Und bequeme Gewohnheiten des Kunstbetriebs und der Welt nicht als gegeben anerkannt. Bislang ist da nichts in Aussicht. Bewerbungen werden aber gerne entgegen genommen unter michael.luenstroth@thurgaukultur.ch
Mehr zum Thema: Die drei wichtigsten Regeln der Street Art: Der Konstanzer Graffiti-Künstler Rusl alias Emin Hasirci im Gespräch mit thurgaukultur.ch-Redaktionsleiter Michael Lünstroth
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