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23.06.2017

O Thurgau

O Thurgau
Herrlich schöner Thurgau: Eine Löwenzahnwiese bei Altnau. | © Christian Perret/Thurgau Tourismus

Der Basler Journalist Lukas Lampart ist im Thurgau aufgewachsen. Für eine Reportage kehrte er jetzt zurück in die alte Heimat - und versuchte sie zu verstehen. Eine Spurensuche in einem weissen Fleck auf der Schweizer Landkarte.

Von Lukas Lampart

Die Jugend fährt bis Winterthur. Östlich davon hört die Schweiz auf, sagt man westlich davon. Ab Winterthur, der sechstgrössten Stadt des Landes, dauert die Fahrt nach Frauenfeld, dem Hauptort des Kantons Thurgau, nur zwölf Minuten. Die Zuckerrübenfabrik und ein paar weitere Industriebauten deuten an, dass man sich einer Stadt nähert.

Auf dem grossen Bahnhofsplatz von Frauenfeld stehen Postautos bereit, die nach Ettenhausen, Oberneunforn oder Steckborn fahren. Ein Platz, der grosse Visionen verspricht, Leben und Lebhaftigkeit suggeriert. Beides löst Frauenfeld, der Thurgau nicht ein: Es sind Vorurteile, die ich als Thurgauer im Exil immer wieder höre. Zu weit weg, verschlafen, ein unpopulärer Dialekt.
Der Zug an diesem Nachmittag ist karg besetzt. Eine Fahrt wie eine Parabel auf den demografischen Wandel. Je weiter weg von Zürich, desto höher das Durchschnittsalter in den Abteilen. Der Zug rast durch das Thurtal. Weite Ebene, eine fast leere Autobahn, Bauernhöfe und Einfamilienhäuser. Weinfelden. Es steigen einige Passagiere zu. «Gosch öppe is Dütsche?» Es ist der Zug ins Paradies, das Einkaufsparadies in Konstanz.

Der Zug klettert den Seerücken hoch. Im Dunst zeigen sich Säntis und die Churfirsten. Dann breitet sich der Bodensee aus. Segelschiffe liegen im Wind. Kreuzlingen. Schüler stehen auf dem Perron. Der Zug fährt weiter, vorbei an Klein Venedig, dem Grenzgebiet bei der Bodenseearena, die als SRF-Aussenstelle für Emotionen bekannt ist. Konstanz, Endstation. Der Zug leert sich, die vollen Taschen am Bahnhof häufen sich. Wer durch den Thurgau fährt, hat meistens das Ausland zum Ziel.

Leben und sterben

Der Kanton Thurgau ist ein weisser Fleck auf der Schweizer Landkarte. Am 12. März 1934 verabschiedete sich «Mostindien» mit Heinrich Häberlin aus dem Bundesratszimmer. Peter Spuhler, der Chef des Zugherstellers Stadler Rail und wohl bekanntester Thurgauer Politiker, zog sich 2012 aus der Bundespolitik zurück. Die Idee, das nationale Scheinwerferlicht mit der Expo 2027 auf die Region zu lenken, wurde letztes Jahr bei der Abstimmung für einen Planungskredit vom Stimmvolk deutlich verworfen.

So bleiben Äpfel, der Bodensee, die Züge von Spuhler, Ex-Miss Schweiz Anita Buri, Vorstösse zum Frühfranzösisch und das skurrile Musikvideo «Lebe und sterbe im Thurgau», der Rapper Reim Rammler Manché, Tobyland, First Lady Chill und Reim Rammler Flowz im mentalen Gedächtnis des Landes. Was ist das für ein Kanton, der an Feiertagen mit der Hymne «O Thurgau, du Heimat, wie bist du so schön?» besungen wird?

Kanton Thurgau, das ist 46,9 Prozent Anteil Wohneigentum (BS: rund 16 Prozent), knapp ein Fünftel der Bevölkerung Pensionäre (BS: 19 Prozent) und 41 Straftaten pro 1000 Einwohner (BS: 110,1). Kanton Thurgau, das ist mit Frauenfeld das grösste Hip-Hop-Festival Europas. Kanton Thurgau, das sind drei Frauen und zwei Männer im Regierungsrat. Kanton Thurgau, das ist eine Standesinitiative zu Biberschäden an der Infrastruktur.

Wie lebt es sich in diesem Kanton?

«Man hat im Thurgau das Beschauliche, das Ruhige und gleichzeitig ist man schnell in einem der kleineren Zentren», sagt Sarah Lüthy, Geschäftsführerin von thurgaukultur.ch, dem Kulturportal des Kantons. Sie stört sich daran, dass man von aussen das Gefühl habe, dass nichts los sei im Thurgau. «Ich kenne das auch aus meiner Verwandtschaft aus Solothurn und Bern. Man könnte meinen, die Schweiz höre nach Winterthur auf. Aber wenn sie dann kommen, sind sie hell begeistert von der Umgebung und dem Kulturangebot.»

Für Rolf Müller, Geschäftsführer von Thurgau Bodensee Tourismus, ist das Schönste im Thurgau gerade vorüber: «Die ‹Bluescht› ist ausserordentlich schön und prägnant. Es ist ein Überraschungseffekt, der sich in vielen Themen weiterzieht. Unsere Gäste sind begeistert von der Vielfältigkeit, wenn sie dann mal hier, östlich von Winterthur, waren», sagt Müller.
Auch Monika Knill, Präsidentin des Regierungsrates und Mitglied der SVP, freut sich über die Farbpracht: «Mir gefallen unsere wundervollen Landschaften mit dem kräftigen Farbenbild.» Im Moment leuchte der Thurgau in den Wappenfarben Grün, Gelb, Weiss. «Mir gefällt die Art und Weise, wie die Bevölkerung den Kanton ‹belebt›. Unaufgeregt, engagiert, direkt, festlich.» Doch der Thurgau werde zu oft auf eine «landwirtschaftliche Pufferzone» am Rande der Schweiz reduziert, obwohl er über einen hervorragenden Werkplatz verfüge. Auch in Bildung und Forschung, Kultur und Sport biete der Kanton sehr viel, sagt die Vorsteherin des Erziehungsdepartements.

Stolz und genügsam

Der Kanton Thurgau drängt sich nicht auf, ist für viele unbekanntes Terrain. Sind Thurgauer selbstgenügsam? Sarah Lüthy sagt: «Ich glaube schon. Die Kulturland-Initiative, die im Februar 2017 mit über 80 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde, ist ein gutes Beispiel dafür. Man möchte bewahren, was schön ist und woran man selber Freude hat. Im Gegenzug wurde der Planungskredit zur Expo27 verworfen. Vielleicht will man hier gar nicht so im Zentrum der nationalen Aufmerksamkeit stehen.» Es gebe Visionen und Pläne, doch es fehle oft die Durchsetzungskraft und die breite Unterstützung für deren Umsetzung.

«Wir Thurgauer haben Freude an unserem Kanton und sind stolz darauf. Aber wir haben wenig Lust, ihn zu teilen», sagt Rolf Müller. «Wenn am Samstag oder Sonntag einer, dummerweise noch ein Zürcher, auf unserem Bänkli sitzt, da haben wir wenig Verständnis. Was uns fehlt, ist Selbstwertgefühl. Denn wir können mit dem Rest der Schweiz mithalten.»

Ein Tourismusbewusstsein sei aber kaum vorhanden. Auf der deutschen Seite des Bodensees boome das Geschäft mit Feriengästen. «Wir sind uns dieser Chance nie bewusst gewesen. Mit der Expo hätten wir das Bild des Thurgaus, als modernen und innovativen Kanton, vernünftig zurechtrücken können. Wir haben die Chance verpasst und nur die Probleme gesehen, das Geld in den Vordergrund gestellt», sagt Rolf Müller. Es brauche Investitionen und für einen Grossevent wie die Expo hätten sich solche leichter finden lassen.

Monika Knill sagt: «Es ist so, dass eine gewisse Bescheidenheit und Genügsamkeit im Thurgau verankert sind und bewahrender Charakter nicht per se falsch ist.» Dennoch habe es immer wieder Momente gegeben, wo die Bevölkerung mit zukunftsgerichtetem Weitblick Entscheide gefällt habe. «Das setzt sich hoffentlich fort», sagt Monika Knill.

Offen und gesellig

Er schaue gerade vom Ottenberg oberhalb von Weinfelden auf den «schönen Thurgau», sagt Reto Scherrer, Radio- und Fernsehmoderator am Telefon. «Ich arbeite in Zürich und bin viel in Städten unterwegs. Aber das Grüezi-Sagen, das Miteinander-Plaudern, sich auch mal im Garten aushelfen, das erlebe ich im Thurgau am stärksten», sagt er. «Ich habe Angst, dass viele Leute, die an einen so schönen Ort wie den Thurgau ziehen, sich nicht für das Leben vor Ort interessieren oder sich engagieren.»

Der Thurgauer, sagt der Nachfolger von Monika Fasnacht beim «Samschtig Jass» auf SRF, sei ein offener Mensch, der gerne auf andere zugehe. «Wenn man Kontakt gefunden hat, eine gesellige Runde, dann sind wir voll dabei.» Auf die Vorurteile, den Dialekt, angesprochen, insistiert er. «Schauen Sie mal, wer in der Szene des gesprochenen Wortes, im Radio oder Fernsehen zu den Grossen gehört: Kurt Felix, Mona Vetsch, Matthias Hüppi, die haben es nicht zuletzt wegen ihres Dialekts geschafft.» Der Thurgauer und St. Galler Dialekt sei sehr verständlich, das werde ihm oft gesagt. «Und mal ehrlich: Es gibt keine Frau, die am Morgen im Radio mehr Sexappeal versprüht wie Mona Vetsch.»

Mut und Haltung

Was fehlt dem Kanton Thurgau? «Den Bodensee haben wir, die Berge sind vor der Tür. Was uns fehlt, sind mehr nebelfreie Tage. Wir sind schon sehr belastet davon», sagt Scherrer. Sarah Lüthy vermisst das Selbstbewusstsein. Es brauche «Mut zur Debatte, sich inhaltlich auseinanderzusetzen, ohne dass es gleich persönlich wird.» Der Thurgau sei klein, man kenne sich. «Eine Thurgauer Bundesrätin», diese Schlagzeile würde Sarah Lüthy in den nächsten vier Jahren gerne einmal lesen. Lieber früher, sagt sie – und lacht.

Rolf Müller wünscht sich mehr Mut und «eine Haltung, Gastgeber zu sein. Es gibt im Thurgau noch viele Geschichten zu erzählen.» Monika Knill würde gerne die Schlagzeile lesen, dass Herzog & de Meuron mit Thurgauer Holz eine moderne Kunst- und Markthalle im Thurgau bauen. Sie wünscht sich mehr überzeugendes Commitment für mehr Engagement im Tourismus. «Und Journalisten wie Sie, welche die vielen Besonderheiten unseres schönen Kantons nach aussen tragen.» Ein Satz, der weniger schmeichelt, als dass er die Problematik auf den Punkt bringt.

2027 findet in der Region keine Expo statt. Eine Thurgauer Bundesrätin wird es bis dann wohl auch nicht geben. Der Nebel im Thurtal wird immer noch tief hängen. Aber bis 2027 wird Edelreich, das grösste Outlet-Center der Schweiz, gebaut sein. Das Müllheimer Stimmvolk hat Anfang des Jahres einer Zufahrtsstrasse für den Konsumtempel in der Nachbargemeinde Wigoltingen zugestimmt. Auf 30 000 Quadratmetern sollen 120 Geschäfte Platz finden. Etwa 18 Kilometer Luftlinie von Konstanz entfernt wird eine Thurgauer Antwort auf den Einkaufstourismus thronen. Damit die Fahrten durch den Thurgau auch im Thurgau enden.

 

Dieser Text erschien erstmals am 26. Mai 2017 in der Basler Zeitung .

 

Der Autor

Lukas Lampart (*1988) ist in Wallenwil aufgewachsen. Nach der Matura an der PMSTG hat er in Basel Germanistik und Soziologie studiert – und ist geblieben. Die Kulturstadt am Rheinknie hat es ihm angetan. Nur manchmal vermisst er die Weite des Bodensees. Wenn er den Thurgau besucht, freut er sich gesellige Abende im Hinterthurgau, Rennradtouren und einen Sprung in den Untersee. Seit 2013 arbeitet er als Produzent bei der Basler Zeitung.

 

 

 

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