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Märchenstunde

Märchenstunde
Zwischen Volks- und Gruselmärchen: Wie es um eine alte Erzählform in Zeiten von Fake-News und Internetblasen steht | © Thurgaukultur

In Zeiten von Fake-News und Internetblasen: Warum Märchen der perfekte Stoff für die Gegenwart sein könnten, es aber trotzdem nicht sind.

Von Michael Lünstroth

Lassen Sie mich kurz persönlich werden: Wann haben Sie zuletzt ein Märchen gelesen? Oder gehört? Und damit meine ich jetzt nicht die Märchen, die man von seinen Kindern hört, wenn sie einem erklären, warum genau sie ganz und gar nicht gemacht haben, was die blöden Eltern ihnen gerade wieder vorwerfen. Auch nicht die Märchen, die ein merkwürdiger, orangefarbener Mensch in einem grossen weissen Haus fortlaufend erzählt. Und schon gar nicht geht es um jene Märchengeschichten von diesem von Sultanfantasien berauschten Schnauzbartträger aus dem Morgenland. Es geht um jene Märchen, die seit Jahrhunderten weitergegeben werden, deren Geschichten meistens so universal sind, dass sie in Variationen auf allen Erdteilen existieren. Die Märchen aus 1001 Nacht, die Brüder Grimm, so was.

Bei den meisten Menschen dürfte die letzte Märchenbegegnung schon eine Weile her sein. Dabei passt die Gattung doch so gut wie kaum eine zweite zu unserer Zeit. Die Geschichten sind leicht verständlich (Im Gegensatz zur aktuellen Weltlage), die Figuren sind berechenbar (im Gegensatz zur aktuellen Weltlage) und am Ende geht es immer gut aus (das ist in der Realität gerade eher in der Schwebe). Da könnte man doch meinen, Märchen wären der perfekte Fluchtort für den gestressten modernen Menschen. Ist aber nicht so. Kaum einer liest heute noch Märchen. Das liegt natürlich auch an Sätzen wie „Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende". In Zeiten von Lebensabschnittsgefährten glaubt das doch keiner mehr.

Die Bohnenranke der Phallus? Die Wendeltreppe der Sex? Häh?

Die Krise des Märchens hat schon vor langen langen Jahren begonnen. In den frühen 1970er Jahren begannen zunächst wohlmeinende Pädagogen Märchen als „Instrumente bürgerlicher Repression" zu deuten, die aus der Kindererziehung verbannt werden müssten. Dann kamen die Psychoanalytiker um Bruno Bettelheim 5 Jahre später mit ihren Interpretationen: die Hexe „als Personifikation der destruktiven Aspekte des Oralen", der Wolf, der alle „asozialen, animalischen Tendenzen in uns verkörpert", die Wendeltreppe, die ein sexuelles Erlebnis bedeutet und, mein Favorit, eine Bohnenranke, die in den Himmel wächst, als magische Kraft des Phallus, sich aufzurichten. Jaja. Gut möglich, dass auch das vielen Menschen die Lust und Unverkrampftheit am Märchen genommen hat.

Dabei hatte es Bruno Bettelheim ja eigentlich gut gemeint mit den alten Geschichten. Er wollte sie den Kindern zurückgeben, weil er sie als wichtig für ihre Entwicklung erachtete. Kinder, schrieb der Psychoanalytiker vor 40 Jahren, empfinden Märchenmotive als wunderbar, weil sie sich in ihren Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten zutiefst verstanden und gewürdigt fühlen. Märchen hatten hier mehr pädagogische als literarische Bedeutung. Vielleicht war das das Problem an der ganzen Sache. 

Aber warum erzähle ich Ihnen das alles?

Nun. Märchen werden in dieser Woche wieder wichtig. Beim Märchen- und Geschichtenfestival „klapperlapapp" in Romanshorn am 24. und 25. Juni. Unter hohen Eschen und Eichen im Romanshorner Wald knüpfen drei Erzählerinnen und Erzähler sowie eine Theatergruppe an die Tradition an und geben die alten Geschichten mündlich weiter. Wenn es bei Ihnen also auch so lange her ist wie bei mir, dass sie ein Märchen gehört haben, dann sollten sie das nicht verpassen.

Was wird sonst wichtig in dieser Woche? Es ist auf jeden Fall ganz schön viel los: In Bischofszell startet die Rosen- und Kulturwoche am 24. Juni, in Frauenfeld spielt das Theater Kanton Zürich unter freiem Himmel in der Altstadt, in St. Gallen beginnen die Festspiele und auch in Konstanz gibt es Freilufttheater mit einem urschweizerischen Thema - „Wilhelm Tell". Jetzt müssen Sie sich nur noch entscheiden, wo Sie hingehen wollen.

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