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Voll in den Bauch

Voll in den Bauch
Gesichter, die man so schnell nicht vergisst: Die Schatten der Scherenschnitte aus Teresa Diehls Arbeit "Post Revolution" | © Luca Rüedi/The View

Die Galerie The View in Salenstein ist bekannt für ihre spektakulären Ausstellungsorte. Die Sommerausstellung mit Teresa Diehl übertrifft nun alles, was bisher dort zu sehen war

Von Michael Lünstroth

Ein Muezzin ruft, Kirchenglocken läuten, dazwischen immer wieder dieser aus der Ferne zu hörende dumpfe Detonationsklang einer Bombe: Bumm - - - Bumm  - - -  Bumm. Was ist das für ein Ort? Wassertropfen fallen von der Decke auf den Boden. Wie anderswo Bomben vom Himmel. Bumm - - - Bumm  - - -  Bumm. Über die einem Berg abgetrotzten Höhlenwände marschieren Soldaten, sie schauen ernst, der Stacheldraht auf ihren Gesichtern macht diese Begegnung noch bedrohlicher. Verunsicherung erfasst den Besucher, betritt er diesen Raum. Was ist hier los? Was passiert hier in der Dunkelheit einer tropfenden Höhle bei Berlingen am Bodensee? Einfache Antwort: Kunst. Aber es ist viel mehr als das. Es ist Reflektionsraum, Erlebnisraum, es ist die wahrscheinlich packendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die es derzeit im Kanton zu sehen gibt. Verantwortlich dafür ist die Künstlerin Teresa Diehl. 1961 im Libanon geboren ist sie früh mit der Familie nach Venezuela gezogen, um später in den USA Bildende Kunst zu studieren. 

Als Artist in residence der diesjährigen Sommer-Ausstellung der Galerie The View hat sie drei Werke geschaffen, die einen packen, durchschütteln, berühren und verstören. Aber der Reihe nach. Die eingangs beschriebene Arbeit trägt den Titel „Cubo Negro“ und beschäftigt sich mit dem Nahostkonflikt. Dahinter steckt eine kubische Installation mit gespannten Nylonfäden (die wie Stacheldraht aussehen) mit einem Projektor in der MItte, der die Soldatenbilder an die Wände wirft, dazu kommen von Band die Klänge aus Religion und Vernichtung. Eine Versuchsanordnung, die mutmasslich auch in einem white cube wirken würde. Aber erst in dieser speziellen Umgebung - ein enger, düsterer militärischer Unterstand aus der Zeit des Kalten Kriegs mitten im Bergmassiv - bekommt die Installation diese immense Wucht, die einen überrollt. Man wird konfrontiert mit eigenen Wahrnehmungen, Einstellungen und herausgefordert diese zu überprüfen.

Was für ein bedrückender und eindringlicher Ort: Teresa Diehls "Cubo Negro"

Was für ein bedrückender und eindringlicher Ort: Teresa Diehls "Cubo Negro". Bild: The View

In dieser zupackenden Art fährt Diehl auch in ihren beiden weiteren Arbeiten der Ausstellung fort. In einem alten Wasserspeicher hat sie einen so wirkmächtigen Schauplatz erschaffen, wie man es nur sehr, sehr selten in der oft verkopften zeitgenössischen Kunst erlebt. Der Besucher tritt ein und sieht als erstes an der Decke einen flatternden Vogel. Ein Hoffnungszeichen nach dem Terror von Cubo Negro? Kaum schöpft man Hoffnung, geht der Blick nach unten und zeigt echte Drohnenbilder von Bombenangriffen. Teresa Diehl lässt einem wenig Raum zum Verschnaufen. Nichts ist nur so. Sondern immer so und so. Die Dualität des Lebens ist etwas, das ihre Arbeiten durchzieht. Nichts ist gewiss, nichts ist eindeutig, es gibt immer mindestens zwei Seiten. Es ist der Einstieg zu „Post Revolution“, Diehls Verarbeitung des arabischen Frühlings. 

Über ein paar Stufen gelangt man in diesen fast ätherisch wirkenden Ort. Von der Decke baumeln raumhohe, riesige Mobiles aus Scherenschnitten. Sie zeigen Soldaten, Familien, die fliehen, Kinder, die flehen und das ganze Drama, das so ein gesellschaftlicher Umschwung mit sich bringt. Leid, Schmerz, Mut, am Ende aber auch Desillusion. Die Figuren drehen sich im Kreis, es geht nicht weiter, Fortschritt ist hier nicht in Sicht. Aus den Lautsprechern tönen Klänge, die an eine Kinderspieluhr erinnern. Teresa Diehls Blick auf den arabischen Frühling ist offensichtlich sehr nüchtern. Vielleicht auch deshalb ist diese Arbeit die eigentliche Herzkammer der drei ausgestellten Werke. Die ziselierte Handwerkskunst der Scherenschnitte, die sich umeinander drehenden Figuren, die keinen Ausweg aus dem Dilemma, aus ihrem Leid finden, die Vergrösserung dieser Idee als schwarze Schatten auf der Speicherwand, die Tonspur mit Kindermelodie, die ohne Umwege direkt ins Herz des Betrachters zielt, all das ist bis ins grausame Detail (auf dem Boden unter den Mobiles liegen Schrapnellspuren neben abgebrochenen Schrauben) so perfekt inszeniert, dass man Stunden an diesem Ort verbringen könnte, und immer noch etwas Neues entdecken würde.

Man kann das auch plakativ und effekthascherisch finden

Das Werk „El nido“, das Nest, schliesst Diehls Trilogie bei The View ab. Sphärische Klänge, Vogelgezwitscher, Stroh am Boden und ein Labyrinth aus raumhohen Nylonschnüren kreieren einen Ort, der am Ende doch noch ein bisschen etwas Versöhnliches haben soll. Über die Nylonschnüre flattern hier und da virtuelle Vögel, ein zarter Herzschlag pocht im Hintergrund, hier soll man sich geborgen fühlen. El nido will ein Refugium sein nach all dem Terror, den man zuvor gesehen hat. Irgendwie heimelig, irgendwie mythisch. Es würde einen nicht wundern, wenn in jedem Moment die Elbensippschaft aus dem Herr der Ringe um die Ecke käme. Ist das die Lösung? Der Rückzug ins Private und die böse Welt da draussen ausschliessen? Wirklich? Wohl kaum. Denn: Selbst bei El Nido geht es nicht ohne doppelten Boden. Wie echt ist die Idylle? Kann man ihr trauen? Und ist das Nest mit seinen verzweigten Nylonschnüren nicht eher ein Spinnennetz aus dem man nie wieder herauskommt? Die Heimeligkeit ist auch hier nur eine Möglichkeit. Man kann hier zur Ruhe kommen oder total verrückt werden. Bei Teresa Diehl ist immer alles möglich.

Was nun von all dem halten? Klar, man kann das alles auch kitschig, effekthascherisch und ein bisschen zu plakativ finden. Allein: Es würde den Arbeiten nicht gerecht. Dazu sind die Werke zu klug, zu überraschend, zu überwältigend. Ausserdem: Diehls Kunst packt sich zwar kraftvoll erstmal Bauch und Herz der Besucher, aber der Kopf ist dann schon auch noch gefordert.  

Angesichts der brodelnden Kraft von Diehls Arbeiten haben es die anderen Werke dieser Sommer-Ausstellung etwas schwer, Beachtung zu finden. Dabei hätten sie es durchaus verdient. Zum Beispiel das spielerische „Portrait on the Fly“ der Digitalkünstler Christa Sommerer und Laurent Migonneau. Inspiriert von den manieristischen Bildniskompositionen Giuseppe Arcimboldos hat das Künstlerduo eine Software entwickelt, die auf einem Bildschirm aus virtuellen Fliegenschwärmen menschliche Portraits modelliert. Jeder Besucher kann es ausprobieren, wenn er sich vor die am Werk installierte Kamera stellt. Faszinierend wie die Fliegen immer wieder neu ausschwärmen und aufs Neue ein Bild zusammensetzen. Auf der Madrider Kunstmesse ARCO wurden sie für diese Arbeit mit dem BEEP Award ausgezeichnet. Zu sehen ist diese Arbeit - ebenso wie die Klanginstallationen von Bernhard Leitner - in einem Militärschutzbunker in Salenstein. Leitners Arbeiten vermessen den Raum noch mal ganz anders. Er wird durch den Schall quasi körperlich spürbar. Auch hier ist das Zusammenspiel zwischen Werk und Ort nahezu perfekt. 

Es ist genau diese Kommunikation zwischen Kunst und Raum, die die Ausstellungen bei The View so speziell macht. Sie eröffnet Horizonte, die anderswo nicht mal ansatzweise sichtbar wären. Und schafft so ein Erlebnisforum für zeitgenössische Kunst, das das Reden über Kunst und drängende Fragen unserer Zeit neu ermöglicht. Oder mit anderen Worten: Wer wissen will, wie man Ausstellungen macht, die man so schnell nicht vergisst, sollte die Sommerschau von The View unbedingt besuchen.

 

Termine: Die Sommerausstellung bei The View ist bis zum 30. September zu sehen. Es gibt so genannte „Kunstoffene Sonntage“, an denen die Galerie von 13 bis 18 Uhr geöffnet ist. Sie finden statt am 30. Juli und 27. August. Um Anmeldung wird per E-Mail gebeten: info@the-art-view-ch.com Zu anderen Terminen sind Voranmeldungen bei Gruppen ab fünf Personen telefonisch möglich 071 669 19 93 oder per E-Mail info@the-view-ch.com Eintritt inklusive Führung kostet 18 Franken. Da die Orte des Ausstellungshauses etwas weiter auseinander gelegen sind, bittet die Galerie ihre Besucher für eine vollständige Besichtigung mindestens eine Stunde einzuplanen. Die Räumlichkeiten sind nicht rollstuhlgängig.

Video: Kuratorin Anabel Roque Rodriguez im Interview mit Teresa Diehl

 

 

Weitere Bilder aus der Ausstellung

Die Scherenschnitte und ihre Schatten: "Post Revolution" von Teresa Diehl. Bild: The View

Heimeliger Ort oder trügerisches Idyll? Teresa Diehls "El nido". Bild Luca Rüedi/The View

„Portrait on the Fly“ der Digitalkünstler Christa Sommerer und Laurent Migonneau. Bild: Luca Rüden/The View

Bernhard Leitners Inszenierung einer Klanginstallation

www.the-view-ch.com

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