von János Stefan Buchwardt, 17.08.2017
Freilich Freilicht
Mit «Der schwarze Kuss» setzt die Sommerproduktion der Theaterwerkstatt Gleis 5 aus Frauenfeld einen verbesserungswürdigen Akzent in die Thurgauer Kulturlandschaft der heissen Monate. Neben viel Italianità auf hohem Niveau stehen ausufernde Dialog-Rührseligkeiten, die den erhofften Grad an ausgefeilter Volkstheater-Kunst verfehlen.
Erneut und auf Teufel komm raus, es pulsiert unterm diesjährigen mit extremen Wetterkapriolen bedachten Sommerhimmel. Allerlei repräsentative oder auch nur natürliche Flächen (auch im nahen Ausland) werden ausgiebig besonnt und besungen, dann wieder stark verregnet und gleichwohl bespielt: Rathausplätze, Münster- und Klosterhöfe, eigens für szenische Darstellungen geschaffene Wasserbühnen.
Neben Carmen, Tell und Ariadne fällt der Fokus nun auf das kleine, zur politischen Gemeinde Gachnang gehörende Islikon. Kein spektakuläres Wasserschloss als Zivilisationskulisse, trotzdem eine schöne hofartige Architektur mit beeindruckender Schaufront. Und dort eine im Vorhinein vielversprechende Freilichtaufführung im gepflasterten Innenbereich des Hauptquartiers der ehemaligen Greuterschen Firmen.
Dahinter stehen zwei Herzeigefiguren der Theaterwerkstatt Gleis 5 in Frauenfeld, die inzwischen ganze sieben Sommertheater-Produktionen vorweisen können. Was für andere Seestaffage, abgesicherte literaturhistorische Dramenvorlage oder Festspielchor ist, ist für Noce Noseda und Giuseppe Spina die einzigartige Intimität ihrer Theaterlokalität. Dennoch, kein Mercedes-Benz SL 500 wie beim See-Burgtheater, hier nur ein angeknackster roter Fiat als Bühnenblickfang.
Nemo Frei, der knapp vierzehnjährige Sohn des Regisseurs, der einen stimmungsvollen Auftakt zum Abend setzt. Foto: Eliane Munz
Während in der Open-Air-Saison also der Dürrenmatt in Hagenwil längst den Horváth in Kreuzlingen abgelöst hat, findet im Industriedenkmal Greuterhof jetzt ein an diesem Ort so schon zum zweiten Mal deklariertes Kammertheater samt vorhergehendem kulinarischem Spektakel statt. Aber: Unter den Regiehänden von Noce Noseda wird eine im Lichte aktueller Flucht- und Armutsbewegungen recht arglose Migrationsgeschichte erzählt. Legitim?
Harmlosigkeit und Sentimentalität hin und her, es hätte durchgehend besser gelingen können, die präsentierte Bühnenkunst in den Stand höchst erfrischender Volkstheater-Kunst zu erheben. Doch dafür sind die Dialoge und Szenen zu oft nicht griffig genug. In immer wieder fehlender Ausgewogenheit und Zugespitztheit säuseln sie mitunter ausgedehnt vor sich hin und ermüden das geneigte Ohr.
Klischees und Lustbarkeiten
«Der schwarze Kuss» bearbeitet den Zuzug von Italienern in die Schweiz. Von wahrer Begebenheit ausgehend wird die Geschichte des «Stagionale» Michele aufgerollt, die in der weiteren Bearbeitung auch von den Lebensumständen des Hauptdarstellers Giuseppe Spina inspiriert ist. Italienische Herkunft und der Aufenthalt in der hier stark klischierten Schweizer Fremde geraten in Widerspruch. Fiktives und Reales erfahren eine an sich geschickte Vermengung. Zum Beispiel der konkrete Einbezug der einstigen Verwendung des Greuterhofs als Unterkunft für Gastarbeiter aus der «Repubblica Italiana».
Der eigentliche Plot entzündet sich am giftigen Stich einer Tarantel. So mag sich der Titel der Produktion herleiten. Nur über Musik und ausgelebte Tanzwut liesse sich der Protagonist Michele (Giuseppe Spina) von seinem Leiden erlösen, wäre es in diesem Fall nicht nur vorgetäuscht – aus unerfüllter Sehnsucht zur Angebeteten im Heimatort nämlich, an deren Stelle später eine blinde Schweizerin (Silvana Peterelli in einer Doppelrolle) gesetzt wird. Liebe, Arbeit, Aberglaube, Heimat und vor allen Dingen Daseinsbewusstsein stehen thematisch im Mittelpunkt.
Übersetzen im alten Cinquecento vom heissen Italien in die an Biederkeit nicht zu überbietende Schweiz (Giuseppe Spina und Joe Fenner, im Hintergrund Nemo Frei und die Musiker). Foto: Eliane Munz
Wäre nicht die sich versprengende Lustbarkeit der zwei Livemusizierenden aus der südostitalienischen Gemeinde Tiggiano, man müsste um den Zusammenhalt der Inszenierung bangen. Womöglich sind sich Salvatore Alessio (Akkordeon) und Emanuele Ferrari (Perkussion) ihres entscheidenden Beitrags zum Gelingen der Darbietung nur wenig bewusst. An ihrer Seite eine blutvolle Sängerin und Tänzerin, die folkloristische Angelica Rinaldi (auch Perkussion). Bodenständig kittet das Trio die Szenen zusammen, lässt die Pizzica als therapeutisch-exorzistischen Tanz mit mythischem Ursprung aufleben und drängt die Schwächen der Aufführung erstaunlich gut in den Hintergrund.
Grundsätzlich behagliches Flair
Der kontrollierten Zentralfigur Spina stehen fünf weitere Schauspiel-Akteure zur Seite, die viel Lob für nicht wenige handfeste Kleinszenen verdienen: Silvana Peterelli, Jan Hubacher, Joe Fenner, Carin und Nemo Frei. Die schauspielerische Glaubhaftigkeit - selbst beim «Jungstar» Nemo - kommt nur in seltensten Momenten zu kurz. Die Darstellerinnen und Darsteller bewähren sich in unaufgeregten Bahnen, schlüpfen gekonnt in verschiedene Rollen und überzeugen als wendiges Ensemble.
Das authentische musikalische Trio (Salvatore Alessio, Angelica Rinaldi und Emanuele Ferrari) wird zum schlagkräftigen Garanten für Stimmigkeit und Kurzweil. Foto: Eliane Munz
Beileibe, «Der schwarze Kuss» will in erster Linie wohl keinen ausdrücklich erzieherischen Begriffen dienen. Und auf schätzenswert populäre Art vermag die Inszenierung durchaus einen guten Beigeschmack von südländischer Seelenkunde verströmen. Gerade am prima eingebauten und umgesetzten Ritual um den Tarantelkult würde jeder Vorwurf des Allzu-Saloppen sowieso beschämt abprallen.
Lobenswert, leider aber mit Unterbrüchen, entspinnt sich originelles behagliches Flair. Kein vermeintlich bunter Abend mit bitterem Ende wie bei Kasimir und Karoline, sondern hier die schlichte Ambition, sich auf die hübschen Facetten des Kurzweiligen zu berufen und im guten Glauben ans Nebenbei auch noch tiefer schürfen zu wollen. Michele bleibt schliesslich melancholisch, aber mit unerschütterlicher Unternehmungslust zwischen den Welten zurück.
Summa summarum eine Sommerproduktion, die noch um einige Bilderbuch-Qualitäten und wichtige dramaturgische Kniffe hätte bereichert werden können. Mit Verlaub: Dabei müsste ja der vermutete gesunde Ehrgeiz eines in Clown Dimitri Verliebten wie Guiseppe Spina durch kritische Einschätzungen der Produkte aus eigener Theatertext-Schmiede keine Schmälerung erleiden. Handkehrum dürfte sich die liebevolle Pflichteifrigkeit des Regisseurs Andrea Noce Noseda noch zielgerichteter einsetzen lassen. Das, um gerade einem solchen Unternehmen und kommenden gemeinsamen Projekten der Theaterwerkstatt ein untrüglicheres Gefühl für den vor- und allerletzten Bearbeitungsschliff zu verpassen.
Die am Ende eingeblendeten Salman-Rushdie-Verse erstaunen in ihrer komplexen Schönheit, wenn es da heisst: «... Wir sind alles, was geschieht, nachdem wir nicht mehr sind, und was nicht geschähe, wenn wir nicht gekommen wären.»
Termine: Noch bis zum 26. August wird "Der schwarze Kuss" in Islikon gespielt. Beginn ist jeweils um 20.30 Uhr. Kartenreservationen sind hier möglich
Video: Regisseur Noce Noseda im Interview während der Proben
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