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Empör Dich!

Empör Dich!

In einer neuen autobiographischen Skizze nimmt Jochen Kelter den Wandel rund um die Bodenseeregion in den Fokus. Das Ergebnis ist eine teils amüsante, teils larmoyante Klage über die Gegenwart

Von Michael Lünstroth

Nein, man kann nicht sagen, dass einem der Autor seine Haltung verheimlichen würde. Von Beginn an seines neuen, knapp 50-seitigen Essays „Jetzt mache ich einen Satz“ gibt Jochen Kelter die Richtung vor: „Es ist eine ganze Scheissepoche, die über uns hereingebrochen ist, und keiner scheint es zu bemerken." Die von Kelter erkannte „Scheissepoche“ beschreibt er vor allem anhand von Beispielen aus der Bodenseeregion. Auch der Thurgau findet gelegentlich Erwähnung, vor allem arbeitet sich der aus Köln stammende und heute in Ermatingen lebende Schriftsteller an Konstanz ab. Seine Wahrnehmung der Stadt klingt so: „Shoppingtourismus, Rapido-Sightseeing, Rentnerglück, Abziehbildlandschaft, Konsumgeilheit.“ Und: „Beinahe alles ist hier schiefgelaufen, seit sie den Jan Hus vor undenkbaren sechshundert Jahren während des Konzils verbrannt haben.“ 

Das Buch passt zum Zeitgeist

Inhaltlich beschreibt Kelter den Wandel der Region aus seiner eigenen Erfahrung und aus eigener Biografie. Wie er Konstanz und Region erlebte als er für das Studium an die damals noch junge Universität kam, welches gesellschaftliche Klima herrschte („Die Hiesigen schwiegen vom Krieg und vom Nachkrieg. Die schwiegen uns sowieso an.“) und welche umwälzenden Veränderungen die Region vor allem in den letzten 30 Jahren durchlaufen hat. Kelter diagnostiziert, „dass es Generationen brauchen würde, um den ganzen architektonischen, die Aussicht zustellenden, jegliches Harmoniebedürfnis von Auge und Seele beleidigenden Schrott wieder abzureissen und zu planieren.“ Seine Bilanz zur Stadtentwicklung lässt sich so zusammenfassen: Früher war nichts los, heute ist es viel zu viel. Nun ja. Man muss diese Auffassung nicht teilen, aber sie trifft doch einen Nerv bei einigen Konstanzern. Die bisweilen tatsächlich ausufernde Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes sowie des Stadt- und Landschaftsbildes hat ihnen ihre Heimat fremd werden lassen. Insofern wird Kelters Sicht seine Anhänger finden. Erst recht, wenn man sich anschaut, welcher Protest, Touristen in anderen Regionen (Berlin, Mallorca, Barcelona) entgegen brüllt.

Diese Lautstärke übernimmt auch Kelter in seinem Büchlein, deshalb kommt die im Kern nicht immer falsche Diagnose oft zu laut, zu grell, zu sehr nach Empörung heischend daher. Die besten Stellen des Essays sind denn auch in den leiseren Tönen zu finden. Zum Beispiel, wenn Kelter sich des schweizerisch-deutschen Verhältnisses annimmt: „Solidarität, Achtung vor dem anderen, alemannische Gemeinsamkeit gar? Fehlanzeige. (…) Und der andere, der über die Grenze kommt, scheint nie bereit, in seiner egozentrischen Selbstentfaltung, seiner kulturellen Identität zurückzutreten hinter den, der er aufsucht und heimsucht.“ Auch das ist klar und deutlich, klingt aber nicht nach diesem sonst im Essay vorherrschenden „EMPÖR-DICH-TON“. 

Warum einfache linke Erklärmodelle obsolet sind

So wie man jemandem eine Weile gerne zuhört, der sich mal so richtig leidenschaftlich auskotzt, so ist auch Kelters Essay eine Weile durchaus amüsant zu lesen. Irgendwann klingt das Gemotze aber nur noch larmoyant. Was bei aller sprachlichen Schönheit die Lektüre aber besonders anstrengend macht, ist die abgehobene Attitüde und das selbstgewisse Weltbild, die dahinter wie eine Leuchtreklame aufblinken: Veränderung ist grundsätzlich blöd, es gibt keine Neugier auf Neues, nur Angst vor der Zukunft und ausschliesslich der Autor selbst weiss, wie es besser gehen würde. Es ist das klassische Besserwisser-Weltbild nach dem Motto „Ich erklär Euch jetzt mal, wie das wirklich ist“, das vor allem in linken Kreisen anzutreffen ist. Die Fronten sind da klar, es gibt nur Schwarz und Weiss, kein Grau, kaum Zwischentöne nirgends. Wenn man es mit dem Autoren gut meint, dann kann man sagen: Da hat jemand eine klare Haltung. Das stimmt. Gegenwärtige oder gar zukünftige Gesellschaften kann man mit solchen eindimensionalen Denkmodellen allerdings nicht mehr verstehen.

Das Buch: Jochen Kelter. Jetzt mache ich einen Satz. Ein fast aussichtsloser Versuch über die gelöschte Vergangenheit. Kleine Oberrheinische Bibliothek. ISBN 978-3-7448-5456-6 

Reinhören: Hier liest Jochen Kelter aus seinem Buch. SWR2-Beitrag zum Essay. 

Termin: Am 24.Oktober liest Jochen Kelter im Theater Konstanz aus seinem Essay und dem Gedichtband "Wie eine Feder übern Himmel". Details zur Veranstaltung gibt es hier

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