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von Kirsten Astor, 17.09.2017

Warten auf Gedichte

Warten auf Gedichte
Die Schüler der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen hatten eine Dichterlesung erwartet, bei der sie nur zuhören müssen. Doch Dragica Rajcic band die jungen Leute ein und begeisterte sie für Gedichte. | © Kirsten Schlüter

Die Dichterin Dragica Rajcic kam Rahmen der Frauenfelder Lyriktage zu einer Lesung in die Pädagogische Maturitätsschule Kreuzlingen und bot vieles – nur keine Lesung. Unter ihrer Anleitung schrieben begeisterte Jugendliche das „Gedicht der gestohlenen Sätze“.

Von Kirsten Schlüter

Lyrik: Hochgestochene Texte mit komplizierten Reimschemata, schwer zu entschlüsseln und nur dazu da, auswendig gelernt zu werden? Ganz und gar nicht, bewies die kroatische Schriftstellerin Dragica Rajcic vor rund 20 jungen Erwachsenen der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen. Nach nur eineinhalb Stunden hatten die Schüler ihre Meinung zu Lyrik über den Haufen geworfen und selbst ein spannendes Gedicht zu Papier gebracht. So einfach geht Literaturvermittlung. Das Geheimnis des Erfolgs bestand aus zwei Komponenten: Aus Theorie wurde Praxis. Und es kam mit Dragica Rajcic eine sehr nahbare Dichterin, die tiefe Einblicke in ihr Seelenleben gab.

Vor ihr sassen junge Menschen, die nicht viel erwarteten. Eine Lesung halt. Doch Dragica Rajcic machte weit mehr daraus. Das Eis brach sie gleich mit ihrem ersten Satz: „Als ich in die Schule ging, waren alle Schriftsteller aus unseren Schulbüchern tot. Ich aber lebe und bin verrückt nach Schülerlesungen“, sagte die 58-Jährige, die im kroatischen Split geboren wurde. Mit 15 Jahren veröffentlichte sie erste Gedichte auf Kroatisch. „Mein Lebensziel war ein Literaturnobelpreis. Aber mit 17 Jahren wurde ich schwanger, das war keine gute Voraussetzung dafür“, sagte sie augenzwinkernd. Ein Jahr später wanderte Dragica Rajcic nach Australien aus und arbeitete in einer Angelfabrik. „Dieser erste Job war ernüchternd“, gab die Dichterin zu, doch sie fand Trost: „Ich dachte, wenn man viel Schlimmes erlebt hat, könne man besser schreiben.“

Ist dieser Schluss nicht genial?“ Die kroatische Schriftstellerin Dragica Rajcic trat begeistert in den Dialog mit Schülern der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen.

Ist dieser Schluss nicht genial?“ Die kroatische Schriftstellerin Dragica Rajcic trat begeistert in den Dialog mit Schülern der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen. Bild: Kirsten Schlüter


Rajcic erlebte noch mehr Schlimmes: 1991 floh sie während der Jugoslawienkriege mit ihren inzwischen drei Kindern in die Schweiz, wo sie seitdem lebt. „Einen Nobelpreis wollte ich immer noch, aber ich hatte keine Sprache, um zu schreiben“, erzählte sie. Kroatisch war fremd geworden, Deutsch noch nicht vertraut. Doch sie biss sich durch und wurde zur preisgekrönten Dichterin.

An ihrem damaligen Gefühl wollte sie die Kreuzlinger Schüler teilhaben lassen. Jeder sollte im Vorfeld den Text eines fremdsprachigen Lieblingsliedes ins Deutsche übertragen und dabei den Schwierigkeiten des Übersetzers nachspüren. Die Schüler zückten ihre Notizen und lasen eifrig ihre Texte vor. „Jetzt sucht sich jeder einen Lieblingssatz aus, und wir hängen sie hintereinander. Daraus entsteht das Gedicht der gestohlenen Sätze“, erklärte Rajcic. Sofort waren die Schüler begeistert bei der Sache. Der Anfang war klar: „Der Dichter hat seine abgezählten Tage.“ Das klingt gut. Doch wie soll es weitergehen, was passt nun? Die Schüler diskutierten eifrig, wägten ab. Dragica Rajcic zog die Augenbrauen hoch, wenn sie etwas unpassend fand, sie lenkte den Prozess. Die Gruppe änderte den Schluss, die Augen der Dichterin leuchteten. „Ist das nicht genial?“, fragte sie. Die Dichterin war nicht als allwissende Expertin aufgetreten, sondern auf Augenhöhe mit den Schülern.

Zum Schreiben braucht sie die richtige Stimmung

Dann ein Blick auf die Uhr. 20 Minuten blieben noch für diese Lesung, die keine war. Die jungen Erwachsenen nutzten die Chance, eine lebende Schriftstellerin zu befragen: Warum schreiben Sie? Rajcic antwortete lachend: „Man fragt nur Prostituierte und Schriftsteller, warum sie tun, was sie tun. Ärzte und Lehrer fragt man das nicht.“ Schreiben habe sie immer schon gewollt und in ihrer Jugend unter Pseudonym veröffentlicht, damit ihr Vater den Inhalt nicht liest. Auch heute noch habe sie nur Angst vor dem Urteil wirklich nahestehender Personen. Und wie sieht es mit Schreibblockaden aus? „Ich finde es schrecklich, auf Knopfdruck kreativ sein zu müssen. Deshalb zwinge ich mich nicht zu schreiben, sondern nur in der richtigen, mitteltraurigen Stimmung“, so Rajcic. Und dann las sie doch noch zwei ihrer Gedichte vor.

 

Am Anfang war das Blatt noch ziemlich weiss, am Ende war die Dichterin begeistert von der Poesie, die sie gemeinsam mit den Schülern geschaffen hatte. Bilder: Kirsten Schlüter

Am Ende waren die Schüler begeistert von ihrem Gast. Michelle Lebeda, 17 Jahre, und Erin Maier, 18 Jahre, fanden es toll, so viel eingebunden worden zu sein. Nerea Brülisauer, 18, sagte: „Das Dichten kam mir plötzlich so leicht vor.“ Ähnlich empfand die 17-jährige Simone Schallenberg: „Für mich waren Gedichte immer gereimte Texte, die habe ich nie so gern gelesen. Das heute hat richtig Spass gemacht.“ Das freut den Deutschlehrer der Klasse, Oliver Schneider. „Unsere Schule bemüht sich sehr um das Projekt der Kulturstiftung, das gehört hier am ehemaligen Lehrerseminar zum Bildungsauftrag“, so Schneider. Tatsächlich war die Kreuzlinger PMS die einzige Schule im Kanton, die sich für einen Dichterbesuch im Rahmen der Lyriktage interessiert hatte. Schneiders Haltung ist da eine andere: „Ob Theater oder Lesung – wir nehmen alles mit, was uns angeboten wird.“ Auch er selbst kämpft im Unterricht mit den Vorbehalten gegenüber Gedichten. „Ich gehe dieses Thema so niederschwellig wie möglich an“, sagt Schneider. „Denn man kann die Schüler mit Lyrik auch erschlagen.“

Mehr zu den Lyriktagen 2017 können Sie hier lesen

"Eine Welt in ein paar Versen": Bericht vom Eröffnungsabend: http://www.thurgaukultur.ch/magazin/3324/ 

"Aktuell und nicht verstaubt": Zum Programm der 14. Frauenfelder Lyriktage: http://www.thurgaukultur.ch/magazin/3311/ 

 

Die Frauenfelder Lyriktage

Sieben Dichter aus der Schweiz, Deutschland und der Ukraine kommen vom 15. bis 17. September im Frauenfelder Eisenwerk zusammen, um gemeinsam die Sprache und das Dichten zu feiern. Die Autoren lesen nicht nur aus ihren Werken, sondern sie erzählen in moderierten Gesprächen ausserdem von ihrem Schreiben und diskutieren über die Bedeutung von Lyrik heute. Bereits zum 14. Mal finden die Lyriktage in Frauenfeld statt. Der Thurgauer Kulturstiftung als Veranstalter ist es sehr wichtig, auch Schüler für zeitgenössische Lyrik zu begeistern. Deshalb werden Schullesungen mit den eingeladenen Autoren organisiert. Im Thurgau nahm nur die Pädagogische Maturitätsschule Kreuzlingen dieses Angebot an. (kis) 

 

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