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Das Ende der Popkultur

Das Ende der Popkultur
Wie Streamingdienste unser Verständnis von Popmusik verändern. Die Dinge der Woche beschäftigen sich heute mit dem digitalen Wandel - und seinen Konsequenzen. | © Thurgaukultur.ch

Welchen Einfluss Streamingdienste wie Spotify auf Songschreiber haben und warum das unsere Vorstellung von Kulturproduktion komplett auf den Kopf stellt

Von Michael Lünstroth

Wenn sich Rahmenbedingungen in ihrem Umfeld verändern, passen sich Lebewesen an. So ist das schon seit Millionen von Jahren. Manchen gelingt das besser (Kakerlaken), manchen schlechter (Dinosaurier). Tatsächlich gibt es im Tierreich die bezauberndsten Adaptionsgeschichten. Zum Beispiel jene von den Raben in Tokio. Sie knacken ihre Nüsse längst nicht mehr selbst, das machen die Autos auf den engen Strassen der Metropole für sie. Der Clou: Die Vögel benutzen dabei Zebrastreifen und deponieren die Nüsse ausschließlich dann auf der Strasse, wenn die Autos Rot haben. In der nächsten Grünphase beobachten sie lediglich, wie die Reifen die Nussschalen aufbrechen, um schliesslich beim nächsten Rot für die Autos seelenruhig über den Zebrastreifen zu ihrem Snack zu spazieren. 

Clever sind auch die Ameisen in der Sahara. Ihre Strategie sich gegen Fressfeinde zu schützen, hat etwas mit der Aussentemperatur zu tun. Jeden Morgen, bevor ein Volk den Bau verlässt, wird ein Spähtrupp der temperatursensiblen Tierchen vorausgeschickt, um die Wärme zu kontrollieren. Ab 46 Grad Celsius geben die Pioniere grünes Licht, denn dann sind sie in Sicherheit vor einem ihrer grössten Feinde - den Echsen. Denen ist es dann zu heiss für die Jagd. Forscher des Max-Planck-Instituts für Ornithologie haben zudem beobachtet, wie sich die Nachtigall an den Lebensraum Stadt angepasst hat: Sie singt grundsätzlich lauter als auf dem Land. Es sei denn es ist Wochenende, dann trällern sie wieder leiser als an Werktagen, wenn der Berufsverkehr dröhnt.

Alles muss rein in die ersten 30 Sekunden

Auch der Mensch ist zu derlei Anpassungsleistungen in der Lage. Ob er sich dabei immer so geschickt anstellt wie die Tiere ist eine andere Frage. Dazu später mehr. In einem Bericht für das Magazin Pitchfork hat Marc Hogan untersucht, ob und wie sehr sich Pop-Songs durch Streamingdienste wie Spotify verändern. Und in der Tat - sie tun es. Sie klingen nicht nur anders, sie sind auch anders strukturiert. Songwriter würden in die ersten 30 Sekunden von Songs immer mehr hineinpacken, schreibt Hogan. Der Grund dafür liege in einem technischen Detail: dem Fakt, dass Spotify, weltweiter Marktführer bei Streamingdiensten, abgerufene Songs erst ab 30 Sekunden Spieldauer zählt. Und erst wenn Lieder auf diese Weise gehört wurden, kann man mit ihnen Geld verdienen. Dass Spotify lächerlich wenig davon an Künstler zahlt ist dabei wieder eine andere Geschichte. 

Bleiben wir also nochmal kurz bei den Songschreibern und ihren Strategien, die 30-Sekunden-Grenze zu überwinden. Marc Hogan hat zwei Strategien festgestellt. Strategie Nummer 1: Zu Beginn des Songs wird der extrem eingängige Refrain schon in Teilen angedeutet, aber eben nur in Teilen, weil in den ersten 30 Sekunden auch nicht alles verschenkt werden soll. Der Hörer soll so bei der Stange gehalten werden. Nachhören kann man das zum Beispiel in Pinks aktuellem Hit „What about us?“ Strategie Nummer 2: Das instrumentale Intro und die erste Strophe werden so kurz gehalten, dass noch innerhalb der ersten 30 Sekunden der sogenannte „Pre-Chorus“ starten kann, jene Passage, die traditionell zum Refrain überleitet. Wie das geht demonstrieren Kyo und Selena Gomez in ihrem Song „It ain´t me“.

Die Gänge Vorstellung von Kulturproduktion? Ist aufgelöst

Man kann jetzt sagen: Ist doch okay, auch fürs Radio und Fernsehen wurden Songs schon vor Jahrzehnten angepasst. Man kann aber auch sagen: Für ein bisschen mehr Erfolg, Klicks und Kohle verkauft da eine gesamte Branche gerade ihre Seele. Die Komposition von Songs ist in dieser Welt endgültig zur industriellen Fertigung geworden. Eine Fertigung, die massgeschneiderte Schnipsel, auf den unterschiedlichen Märkten feilbietet. Der Mythos, die Magie, das Besondere des Produktionsprozesses von Kultur - alles verhökert auf dem Online-Basar. Man könnte kotzen.

Wie hiess das nochmal, wenn man sich in den Dienst einer niederen Sache stellte, um die eigenen Taschen zu füllen? Ach ja: Prostitution.

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