Seite vorlesen

von Brigitte Elsner-Heller, 12.03.2018

„Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen“

„Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen“
Machte auf seiner Lesetournee mit seinem neuen Roman jetzt auch Station in Weinfelden: Peter Stamm. | © Brigitte Elsner-Heller

Peter Stamm ist in Weinfelden aufgewachsen. Mit seinem aktuellen Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ war er zu Gast bei den Weinfelder Buchtagen.

Von Brigitte Elsner-Heller

„Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ – in Weinfelden war sie eindeutig nicht zu spüren, die Gleichgültigkeit. Eher schon Sanftheit, denn hier hatte Peter Stamm (s)ein Heimspiel: Hier ist er aufgewachsen, hier kennt er „sein Dorf“; umgekehrt kennen ihn die Menschen, die hier leben. Ja, Bücher von Peter Stamm verkaufen sich im Ort gut, wie Katharina Alder vom Buchladen „Klappentext“ in ihrer kurzen Einleitung zur Lesung anlässlich der Weinfelder Buchtage sagt. Und viel mehr muss sie im vollbesetzten Rathaussaal auch gar nicht sagen. Der Büchertisch im Hintergrund spricht sowieso Bände: Peter Stamm, Jahrgang 1963, hat nicht wenig auf dem Buchmarkt platzieren können. Übrigens jetzt nicht mehr über einen Schweizer Verlag (sein Debut „Agnes“ erschien 1998 bei Arche), sondern bei S. Fischer (Frankfurt am Main). Wobei später noch zu erfahren sein wird, dass der Titel des eben erschienenen Romans, „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“, vom Verlag vorgeschlagen wurde. Es ist der erste Titel, der nicht vom Autor selbst stammt.

Welt und Heimat geben sich an diesem Abend dann jedoch ebenso ein Stelldichein wie das seltsame Paar „Autobiografisches“ und „Persönliches“. Dazu spielt Peter Stamm in seinem Text mit unterschiedlichen Bewusstseinsebenen, beziehungsweise führt diverse Doppelungen ein, um dem die entsprechende literarische Form zu geben.

Nach der Lesung nahm sich Peter Stamm noch Zeit, Bücher zu signieren. Bild: Brigitte Elsner-Heller

„Wo kommt Weinfelden vor?“, hatte Katharina Alder einleitend gefragt, um Peter Stamm den Ball zuzuspielen – und damit gleich die Vita des Autors mit in sein Werk einzubinden. Stamm hat die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, ein Kugelschreiber schaut aus der Brusttasche: die einzigen Anzeichen, dass er jetzt eigentlich arbeitet, auf Lesereise ist. Nicht allen Autoren ist es gegeben, ihren Text auch lesend angemessen zur Geltung zu bringen. Bei Stamm ist das anders, er trägt ruhig und mit sonorer Stimme vor. Wenn es Beunruhigungen geben sollte, so tauchen auch sie lediglich reflektiert über den gelesenen Text auf. Wo Stamm über einen Schriftsteller schreibt und spricht, der zu einer Lesung in seinen Heimatort eingeladen wird und Unruhe verspürt angesichts der Aussicht, „vor Menschen zu lesen, die mich schon als Kind kannten“.

Verstehen, was geschehen ist

Peter Stamm setzt mit dem zweiten Kapitel ein: „Magdalena musste sich über meine Nachricht gewundert haben. Ich hatte keine Telefonnummer und keine Adresse angegeben, nur die Zeit und den Ort und meinen Vornamen … Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Ich wartete beim Ausgang der S-Bahn-Station auf sie. Um viertel nach zwei war sie noch nicht da, und ich dachte kurz, sie könnte ein Taxi genommen haben. Aber ihre Verspätung hatte nichts zu bedeuten, sie war immer unpünktlich gewesen ...“. Magdalena ist die Frau, die den Schriftsteller Christoph an seine zwanzig Jahre zurückliegende Liebe erinnert, er trifft sie in einer anderen Stadt, sie heißt nun Lena und hat einen Freund, der ebenfalls Schriftsteller ist. Die Geschichte, die er der jungen Frau erzählt, betrifft ihr Leben, mehr aber noch sein eigenes Leben. „Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen“ ist wohl der prägende Satz, der das ganze Buch begründet. Der den Ich-Erzähler als Autor zurück führt in das Dorf, das winterlich im Nebel liegt. Zu dem Hotel, in dem er als junger Mann Nachtportier war, und wo er sich nun im Portier, der ihm mitternächtlich die Türe öffnet, gespiegelt sieht. Die Figur des Erzählers ist einer, der versucht zu verstehen, was geschehen ist.

Ob er dabei überhaupt ein Handelnder hatte werden können, bleibt bei der Lesung unklar. Das Kapitel, das Peter Stamm präsentiert, zeigt den Erzähler als jemanden, der in Reflexionen lebt, fast selbstverliebt in sein eigenes Fragen. Länger als echte Dialoge zwischen Christoph und Lena sind die Einschübe seiner Erzählung, für die der Autor Peter Stamm einiges an Material aus seinem eigenen Leben aufgeboten hat. Wenn er schreibt „Zum ersten Mal schien Lena mich wirklich wahrzunehmen“, mag man das so nicht glauben. Immerhin hört die – fiktive? – Frau dem „Fremden“ schon geraume Zeit geduldig zu.

Peter Stamm trifft „Agnes“

„Ich lebte immer noch in der Wohnung, in der ich mit meiner Freundin gelebt hatte“, erzählt Christoph, der das Geschehene verstehen will. Und da kommt die Erinnerung an Peter Stamms Debut „Agnes“, wo es auf der ersten Seite bereits einen ähnlichen Satz gab: „Hier habe ich mit Agnes gewohnt, in dieser Wohung, für kurze Zeit.“ Auch Agnes ist ein Wesen, in dem sich Fiktion und Leben mischen. Ein Zufall?

Nach einer Dreiviertelstunde beendet Peter Stamm die Lesung. „Es gibt nicht nur einen Doppelgänger“, sagt er, um das Konstrukt als Ahnung sichtbar werden zu lassen. Katharina Alder fragt noch einmal nach zu Peter Stamms Unterscheidung zwischen Autobiografischem und Persönlichem – die er schon im Romantext seinem Ich-Erzähler in den Mund gelegt hatte. Eine Autobiografie würde er nie schreiben, da würde oder müsste er lügen, sagt Stamm sehr ehrlich. Dennoch: „Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich Nachtportier war, studiert habe, schlechte Bücher geschrieben habe. Warum soll ich das Material, das ich habe, nicht nutzen?“ Das Persönliche? Das sei viel näher, müsse geschützt werden.

Peter Stamm signiert für einen Leser seinen neuen Roman "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt".Nahaufnahme: Peter Stamm signiert für einen Leser seinen neuen Roman "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt". Bild: Brigitte Elsner-Heller

Fasziniert habe ihn die Romantik, in der Doppelgänger ein beliebtes Sujet waren, erklärt Peter Stamm zu seiner Vorliebe, mit Doppelungen zu arbeiten. Und dann kommt ein Sprung, der überraschend tatsächlich direkt zu „Agnes“ zurückführt: Mit diesem Roman sei er in Baden-Württemberg oft an Schulen zu Lesungen gewesen, erinnert er sich („Agnes“ war Abiturthema, Anm. d. Verfasserin). „Ich bin mir selbst wiederbegegnet. Es war ein Teil von mir, ich dachte über eine Fortsetzung nach. Vielleicht ist das Buch („Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“) ja der Doppelgänger von „Agnes“.“

Albert Camus: Der Schluss für den Anfang

Natürlich noch die Frage, wie und für wen er schreibe. Vermutlich ist es Voraussetzung jedes (literarischen) Schreibens, dass es möglich ist, in die eigenen Gedankenwelt ungestört versinken zu können. Auch Peter Stamm setzt auf die Mischung von Bewusstem und Unbewusstem, wobei er der Überzeugung ist, Autoren wüssten schon, was sie täten. „Wie Lena hasse ich es, Wege zurück zu gehen. Gerade auch beim Wandern. Ich kenne das Ende nicht, wenn ich zu schreiben beginne.“ Und der Titel? Der kommt erst am Schluss hinzu, und in diesem Fall über den Lektor. „Er stammt von Albert Camus' „Der Fremde“. Ein Buch, das mir sehr wichtig ist.“

Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 156 Seiten, 23,90 Franken

Paradies für Stamm-Fans: Sämtliche Titel fein gestapelt auf dem Büchertisch bei den Weinfelder BuchtagenParadies für Stamm-Fans: Sämtliche Titel fein gestapelt auf dem Büchertisch bei den Weinfelder Buchtagen. Bild: Brigitte Elsner-Heller

 

Weiterlesen:

Unsere Besprechung des Romans finden Sie hier: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3502/ 

Ein Interview mit Peter Stamm können Sie hier lesen: https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3212/ 

Weiterhören:

Peter Stamm liest aus den ersten Seiten seines neuen Romans

Weitere Termine der Lesetournee

19. März, St. Gallen, Kellerbühne

21. März, Luzern, Buchhaus Stocker

23. März, Olten, Schreiber Kirchgasse

4. Mai, Gottlieben, Bodmanhaus

8. Mai, Ravensburg, Ravensbuch

9. Juni, Kartause Ittingen

18. Juni, Zürich, Universität

7. September, Konstanz, Konzil

 

 

 

 

 

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Literatur

Kommt vor in diesen Interessen

  • Kritik

Werbung

Hinter den Kulissen von thurgaukultur.ch

Redaktionsleiter Michael Lünstroth spricht im Startist-Podcast von Stephan Militz über seine Arbeit bei thurgaukultur.ch und die Lage der Kultur im Thurgau. Jetzt reinhören!

Austauschtreffen igKultur Ost

Für eine starke Kulturstimme im Kanton Thurgau! Dienstag, 11. Juni 2024, 18.00 Uhr, Kult-X Kreuzlingen.

Literaturpreis «Das zweite Buch» 2024

Die Marianne und Curt Dienemann Stiftung Luzern schreibt zum siebten Mal den Dienemann-Literaturpreis für deutschsprachige Autorinnen und Autoren in der Schweiz aus. Eingabefrist: 30. April 2024

Atelierstipendium Belgrad 2025/2026

Bewerbungsdauer: 1.-30. April 2024 über die digitale Gesuchsplattform der Kulturstiftung Thurgau.

Ähnliche Beiträge

Literatur

Verloren auf einem Meer voller Gefahren

Die Frauenfelder Illustratorin Rina Jost hat mit „Weg“ eine berührende Graphic Novel vorgelegt. Sie erzählt darin bildstark die Geschichte ihrer an Depressionen erkrankten Schwester. mehr

Literatur

Romane in den Gedichten

Jochen Kelter hat mit „Verwehtes Jahrhundert“ einen neuen Lyrikband vorgelegt. Er überzeugt mit einem stimmigen Sound. mehr

Literatur

Frauenfeld ist überall

Die Grand-Prix-Preisträgerin Zsuzsanna Gahse hat ein neues Buch vorgelegt: «Zeilenweise Frauenfeld» ist ein experimentelles, witziges und geistreiches Spiel mit der Sprache. mehr