von Barbara Camenzind, 12.09.2016
Klassik-Geheimtipp am Untersee
Das Festival Kammermusik Bodensee logierte vom 9. bis 11. September zum ersten Mal im landschaftlich äusserst attraktiv gelegenen Lilienberg-Zentrum in Ermatingen. Gute Musik und gutes Essen hatten die Organisatoren versprochen und hielten ihr Wort. Das Format muss sich nur noch mehr etablieren.
Barbara Camenzind
Freunde der sogenannten Klassik nehmen gerne einiges auf sich, um an gute Konzerte zu reisen. Sei es über wilde Alpenpässe, oder im Zickzackkurs durch die verträumten Dörfer am Thurgauer Untersee. Geheimtipps werden herumgereicht wie kostbare Kleinodien, denn zu Zeiten der jederzeit reproduzierbaren Musik sind Live-Erlebnisse unbezahlbar. Martin Lucas Staub, der künstlerische Leiter des Festivals Kammermusik Bodensees, und sein Geschäftsführer Roland Meier haben nach einer zehnjährigen - durchaus erfolgreichen Odyssee vom Schloss Girsberg über die MS Sonnenkönigin bis zum Arenenberg - endlich eine passende Heimat für ihr feinsinniges Musik-Rencontre gefunden.
Zu Gast in Apollons Reich
Hoch oben über Ermatingen thront eine Anlage, die irgendwie nicht ganz von dieser Welt zu stammen scheint. Ein wunderschöner Park, gläserne Gebäude, ein Schwimmbad und eine halbrunde Veranstaltungshalle, die an das antike Theatron in Apollons Reich erinnert: Die Stiftung Lilienberg Unternehmerforum hat den prächtigsten Blick über den Untersee und wirkt auch ohne Musik schon sehr harmonisch. Wie gut, dass die Kammermusiknomaden hier jetzt sesshaft geworden sind. Die findigen Konzertveranstalter haben dieses Jahr auch flugs ein opulentes Package angeboten, welches mit Übernachtung, gutem Essen und Konzerten das Publikum nach Ermatingen locken soll. So etwas zu etablieren braucht Zeit. Doch das Festival ist auf dem besten Weg dazu, wie der Besuch beim Auftaktkonzert am Freitag zeigte.
Mann mit hervorragenden Kontakten
Der Pianist Martin Lucas Staub, Mitglied und Gründer des Schweizer Klaviertrios, ist nicht nur sehr belesen, sondern scheint auch über hervorragende Kontakte zu verfügen. Keine Geringeren als die Primadonnen Felicity Lott, Emma Kirkby, sowie das weltberühmte Altenberg Trio Wien folgten schon Staubs Einladung in den Thurgau. Mit dem aron quartett, ebenfalls aus Wien, machte er 2016 vor allem denjenigen Musikfans eine Freude, die der Zweiten Wiener Schule zugetan sind.
Doch zuerst waren sie klassisch zu hören. Mozarts Streichquartett in D-Dur KV 575 ist per se eine Herausforderung für jeden Musiker. Mit viel Verve und wienerischem Charme musizierte sich die Streicherformation durch die halsbrecherischen Allegro-Passagen und gefährlich transparenten Andante-Sequenzen. Die Akustik entpuppte sich als tricky. Erste Geige und Cello waren intonatorisch nicht immer einer Meinung. Dennoch: Das Publikum war höchst angetan.
„Entartete Musik"
Mit den „Fünf Stücken für Streichquartett" des jüdischstämmigen Komponisten Erwin Schulhoff bewiesen die vier Streicher, dass sie zu den ganz grossen Kennern und Könnern der Musik des 20. Jahrhunderts gehören. Vor allem, was die ersten vier Jahrzehnte betrifft. Schulhoff war Schüler von Max Reger und setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg für die „Neutöner" der Zweiten Wiener Schule ein, die eine „Demokratisierung der Harmonien" verlangte (Zwölftonmusik). Kein Wunder, er war Kommunist. Jenseits von Politik und schrägen Melodien liebte er den Jazz und den Tango, was auch in Ermatingen 2016 zu erleben war. Das aron quartett spielte schlichtweg grandios. Für den verkrachten Kunstmaler und Reichsführer Adolf Hitler waren Schulhoffs Kompositionswunderwerke „entartete Musik". Er liess den begabten Mann 1942 in einem Lager ermorden.
Smetana als Titelgeber
„Aus meinem Leben". Das Streichquartett in e-Moll ist eines der schwärmerischsten und schönsten des grossen böhmischen Komponisten. Das aron quartett geigte sich buchstäblich die Seele aus dem Leib. Dieses Werk war DAS Ständchen für das Festival Kammermusik Bodensee das nun, nach vielen Schlaufen, im Lilienberg-Zentrum endlich eine Heimat gefunden hat.
Fazit des ersten Abends: Es war ein Konzerterlebnis, wie es sich die Klassik-Aficionados wünschen. Da kann in schönster Umgebung über das Dafür und Dawider der Interpretationen diskutiert werden. Der Saal bräuchte noch etwas mehr Konzertatmosphäre durch wärmeres Licht. Das Festival hätte es verdient, im Dorf Ermatingen mehr analoge Präsenz durch Banner und Fahnen zu erfahren. Und international mehr Beachtung. So ein bisschen Festspielcharakter wie in Bregenz, wenn schon an so einem schönen Ort musiziert wird, dürfte man sich durchaus leisten. Weiter so.
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Hinweise auf alle Ereignisse des Kammermusikfestivals
und auf
den Veranstaltungsort Lilienberg
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