von Inka Grabowsky, 12.10.2017
Der andere Heimatroman
Benjamin von Wyl las im Kreuzlinger Horstklub seine satirische Dystopie „Land ganz nah“ – eine Nahaufnahme der Schweiz im Bürgerkrieg der kommenden Jahre.
Von Inka Grabowsky
Alles fängt ganz plausibel an: Während der Flüchtlingskrise läuft eine Wahlveranstaltung der Rechtspopulisten aus dem Ruder und übertreibt die Fremdenfeindlichkeit. Dagegen positioniert sich in den Städten links-alternativer Widerstand. Anders als in der helvetischen Realität wird nun aber nicht geredet und ein Kompromiss gefunden, sondern gekämpft. Agglomeration gegen Stadt. Reich gegen arm. Selbsternannte Patrioten gegen Flüchtlingshelfer – wobei „Flüchtling“ darf man in der politisch korrekten Gesellschaft des Romans nicht mehr sagen. Man spricht von Geflüchteten, das sei weniger entmenschlichend, heisst es. Ein junger Online-Journalist, Student der Wissenschafts-Geschichte, berichtet als Ich-Erzähler über die Ereignisse, bis er nicht mehr länger nur zusehen mag und sich auf Seiten der „Urbanisten“ engagiert.
Reinhören: So klingt Benjamin von Wyl live
Er könnte das Alter Ego des Autors Benjamin von Wyl sein, der als freier Journalist normalerweise Geschichten aus dem wahren Leben erzählt. Er habe ein paar Monate auf der Balkanroute recherchiert und einiges davon im Buch verarbeitet, sagt er. Den Konflikt zwischen Stadt und Land hat er ebenfalls der Wirklichkeit entnommen und bezieht sich auf die Sozialforscher des gfs.bern. Dem sinnsuchenden Ich-Erzähler, der in Zürich positioniert ist, stellt er eine karriereorientierte junge Frau gegenüber, die in Basel lebt und arbeitet. „Sie stehen für unsere Generation“, erklärt der 27-Jährige dem studentischen Publikum im Kreuzlinger Horstklub am Mittwochabend. „Man sagt uns schliesslich nach, wir verfolgten entweder die Vollgas-Karriere oder wüssten überhaupt nicht, was wir wollten.“ Die beiden Figuren erleben den Bürgerkrieg unterschiedlich. Es ist kein Wunder, dass ihre Beziehung genauso scheitert wie die Politik.
Die komischen Seiten des Krieges
„Es gibt im Buch auch lustige Passagen“, sagt Benjamin von Wyl, „aber ich lese lieber die anderen.“ Einen „Running Gag“ dürfen die Zuhörer doch geniessen. „Türkische Arme raus aus Kurdistan“ steht auf einem Demo-Transparent, das mehrfach auftaucht. Mit einem „e“ mehr wird aus dem sozialdarwinistischen Spruch ein pazifistischer. Die Sprache im Buch belohnt ohnehin ein genaueres Hinsehen – nicht nur, weil diverse Dialekte sich mit Schriftdeutsch und englischem Flüchtlings-Slang mischen. Der Protagonist ist Kiffer und gelegentlicher Nutzer von synthetischen Drogen. Im Rausch erlebt und schildert er eine Wirklichkeit in buntesten Farben.
Utopie war gestern
Am Ende ist nichts mehr von der Schweiz übrig. Die Drogenvorräte unseres Protagonisten gehen zur Neige. Es gibt nicht mehr genug Strom, um das Smartphone vollständig aufzuladen. Nicht einmal die Post wird noch ausgetragen. Im Lager der Urbanisten im ländlichen Exil gibt es ein erbärmliches „utopia miniature“: Die Menschen beschäftigen sich mit Jagen, Kochen, Sex und Drogen. Die Flüchtlinge, an denen sich der Konflikt entzündet hatte, ziehen lieber in den Dschungel von Calais. Immerhin: der Prime Tower in Zürich und die Novartis-Gebäude in Basel stehen noch.
„Land ganz nah. Ein Heimatroman“ von Benjamin von Wyl ist bei Lectorbooks erschienen. Gebunden 20 Franken, als e-Book 10 Franken.
Von Inka Grabowsky
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