von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 12.03.2018
Verloren in virtuellen Welten
Menschen haben sich schon immer eskapatistischen Träumereien hingegeben. In der virtuellen Realität bekommt das aber eine ganz neue Dimension, wie ein Projekt zeigt, das am Wochenende im Thurgau gastiert. Zeit, mal darüber nachzudenken, wie das unser Leben verändern wird
Manchmal ist das mit dieser Realität ja auch etwas lästig. Alles ist, wie es ist, manches scheint festgefahren, immer will irgendwer etwas von einem und wer wird nicht gelegentlich wach mit dem Gedanken „Ach, das mit dem Leben hatte ich mir irgendwie auch mal anders vorgestellt…“ Der Wunsch nach ein bisschen richtigem Leben im Falschen - dankbarer Stoff für Künstler seit Jahrzehnten. Der Mensch hat sich schon immer nach Fluchtmöglichkeiten aus dem Jetzt gesehnt. Und dafür etliche Vehikel entwickelt: Urlaub, Bücher, Fernsehen, Smartphones - alles Mittel um überall, nur eben nicht hier und jetzt zu sein.
Je länger die Menschen leben, um so ausgefeilter werden die eskapistischen Strategien. Heute reichen längst nicht mehr diesseitige Welten, es geht weiter in ferne Galaxien, die aus den virtuellen Welten unserer Rechner entstehen. Virtual Reality (VR) ist inzwischen auch schon seit einigen Jahren angeblich der nächste heisse Scheiss in der Zerstreuungsindustrie. Wie verlockend das sein kann, kann man in den nächsten Tagen auch im Kanton erleben. Der Genfer Choreograf Gilles Jobin kommt mit seinem VR-Projekt „VR_I“ zum Festival „tanz:now“ an den Bodensee. Gerade erst war er am Sundance Festival in den USA und jetzt also Steckborn. Als Künstler kommt man halt rum! In Jobins Inszenierung können jeweils 5 Zuschauer für 20 Minuten in eine Mischung aus Performance und Installation eintauchen. Auf ihrer Reise treffen sie unwahrscheinliche Landschaften und riesenhafte Tänzer. Glaubt man den Menschen, die diese Reise bereits angetreten sind, dann muss sie einigermassen bewusstseinserweiternd sein.
Video: Wie Besucher das Projekt VR_I erleben
Was wird aus den Tänzern, wenn Avatare sie ersetzen?
Gilles Jobin legt Wert darauf, dass diese Arbeit keine reine Technikspielerei ist. Für ihn geht es um mehr - das Ausschöpfen aller möglichen choreografischen Ideen und dem Tanz auf eine erlebnisorientierte Weise ein neues Publikum zu erschliessen. Ob das wirklich dauerhaft funktioniert oder die Besucher nach dem gestillten ersten Erlebnishunger, sich doch wieder anderen Dingen als dem Tanz zuwenden, wird man erst noch sehen müssen. Aber spannend ist der Ansatz ja auf jeden Fall. Die Technik ist faszinierend. Und sie wirft Fragen auf: Nach unserem Verständnis von Realität, nach dem was wir unter einem „Jetzt“ verstehen und danach ob es noch so etwas wie eine gemeinsame Welt geben kann, wenn alle in ihren eigenen Computerwelten abtauchen. Und auch interessant: Was wird eigentlich aus den Tänzern, wenn ihre digitalen Avatare ihnen den Rang ablaufen? Vielleicht ist das auch die grösste Leistung solcher Projekte: Dass sie Diskurse über das, was wir Realität nennen, ganz neu eröffnen.
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