von Barbara Camenzind, 11.06.2019
Bach, feinschwarz
Ittinger Pfingstkonzerte, der Sonntag: Der Genius von Johann Sebastian Bach wurde vom künstlerischen Leiter Nicolas Altstaedt dieses Jahr zum Genius Loci erklärt. Altstaedts feinsinnige Interpretation der Bach’schen Meisterwerke passte wunderbar gespenstisch in die Kartäuserkirche.
Was für ein Tag für Nicolas Altstaedt, der seit dem Mittag fast ununterbrochen im Einsatz war und zwischen modernem Cello und Barockinstrument wechselte. Hut ab vor der Ausdauer und der Leichtigkeit, mit denen er zwischen den Genres hin- und her wechselte. Nun also Bachs Cellosuiten in Es-Dur BWV 1010 und in c-Moll BWV 1011. Im fahl ausgeleuchteten Raum verschmolz der lautlos erscheinende Musiker mit dem Hintergrund, als feinschwarzer, klingender Körper in der Architektur des sanften, etwas spukigen Ittinger Barocks.
Die Kartäuserkirche mit ihrer strikten Dreigeteiltheit mag für die Konzertveranstalter eine Herausforderung sein. Akustisch ist sie eine hochspannend. Klang Altstaedts wunderschönes fünfsaitiges Barockcello im Chor sehr dunkel, sehr französisch, so verschoben sich in den durch letterartige Bögen getrennte „hinteren Abteilen“ die Klangfarben zu den Obertönen, wie Besucher später berichteten.
Barock ist nicht nur Schnörkel
Wieder einmal passte die Musik perfekt zum Ort und Altstaedt war um keine Tempovariation, keine Rückung, keine stimmige Verhältnismässigkeit verlegen, wenn er auswendig zwischen Prélude, Allemande, Courante, Sarabande, Bourrée und Gigue wechselte.
Der Mann am Cello scheint ein Meister der Camouflage zu sein. So wie sein Genius Johann Sebastian. Sehr wenig ist aus dem Leben Bachs bekannt. Wie er wirklich war, scheint nicht so wichtig, angesichts des Klanggebäudes, das er hinterliess. Altstaedt fühlte dies, sowie die Ordnung, die Struktur, die diese Suiten vorgeben. Barock ist nicht nur Schnörkel. Er ist genauso neugierige Perspektive, Symmetrie und verlangt unbedingten Fokus. Dann stimmen auch die Koloraturen, dann stimmt Gebäude oder Musik, ob üppig oder schlicht. Der Schatten des Musikers verwob pantomimisch die stille Pracht der Kartause mit dem Meer von Bachs harmonischem Zauber. Was für eine wohltuende Entdeckung auf der Hörsafari. Nicolas Altstaedt konnte einen weiteren Spielort spielerisch schön gestalten.
Mehr zu den Ittinger Pfingstkonzerten 2019
1. In diesem Jahr gingen die Ittinger Pfingstkonzerte zum 25. Mal über die Bühne. Ein guter Anlass, um Bilanz zu ziehen: Wo es gut läuft und wo noch Luft nach oben ist.
2. Ittinger Pfingstkonzerte, der Sonntag: Nicolas Altstaedts feinsinnige Interpretation der Bach’schen Meisterwerke passte wunderbar gespenstisch in die Kartäuserkirche.
3. Ittinger Pfingstkonzerte, der Sonntagnachmittag: Das Konzert mit Vilde Frang und Alexander Lonquich mit Werken von Schubert und Schostakowitsch sorgte für Gänsehaut pur.
4. Ittinger Pfingstkonzerte, der Montag: Während Cellist Nicolas Altstaedt zeitgeistlose Schönheit in den Saal zaubert, kommt„The Protecting Veil“ von John Tavener seltsam verstaubt daher.
5. «Ein Leben ohne Musik wäre Barbarei»: Nicolas Altstaedt, künstlerische Leiter und Cellist, im Porträt.
Weitere Beiträge von Barbara Camenzind
- Eine Passion für alle (11.03.2024)
- Die Abgründe unerlöster Sehnsüchte (27.02.2024)
- Einmal Musik auftanken, bitte! (19.02.2024)
- Liebeserklärung an eine klingende Anarchistin (22.01.2024)
- Mit den Händen singen (18.12.2023)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Musik
Kommt vor in diesen Interessen
- Kritik
- Klassik
Ist Teil dieser Dossiers
Ähnliche Beiträge
Zu Unrecht fast vergessen
Am Sonntagabend fand im Rathaus Weinfelden die Buchvernissage von «Hidden Heartache» statt. Das Buch ist im Rahmen der Reihe «Facetten» der Kulturstiftung des Kantons Thurgau entstanden. mehr
Dem Alltag entfliehen
Mit bekannten Namen und literarischen Experimenten: Das Jahresprogramm des Klosters Fischingen bietet Raum für Entdeckungen. mehr
Eine Passion für alle
Warum berührt uns Bachs Johannespassion noch heute? Christian Bielefeldt, künstlerischer Leiter und Dirigent des Oratorienchor Kreuzlingen, über Bachs dramatisches Geschick und seine Klangsprache. mehr