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von Bettina Schnerr, 08.10.2019

«Das Ausziehen ist ein Kunstwerk»

«Das Ausziehen ist ein Kunstwerk»
Passt in keine gängigen Kategorien: Die Autorin Zsuzsanna Gahse. | © Maurice Haas

Ein Umzug steht bevor. Das bedeutet neben dem Packen viel Entrümpeln und Leeren. Der Erzählerin in Zsuzsanna Gahses aktuellem Buch „Schon bald“ eröffnen sich in den nun fast leeren Räumen neue Perspektiven, die sie kreativ zu nutzen weiss.

In jedem Aufbruch steckt bekanntermassen ein Neuanfang. Eine uralte Erkenntnis und dennoch liegt keinesfalls zentimeterdick der Staub darauf. Ein jeder entrümpelt nach Kräften, um Platz für das Neue zu schaffen, um Altlasten oder Unnützes über Bord zu kippen. Nicht anders geht es der Protagonistin, die Zsuzsanna Gahse in ihrem neuen Buch „Schon bald“ entwirft: Je leerer das Haus wird, umso mehr fallen Dinge auf, die bisher im routinierten Alltag untergingen: „Jetzt sehe ich alles, was eingepackt werden muss.“

Jedes Stück, das sie in die Hand nimmt, jeder Tag, der neue Zügelkartons füllt, bringt Erinnerungen mit sich. Jede Bewegung im Raum versorgt sie mit Gedanken an die Eigenheiten ihrer Wohnorte. Doch eine lineare Erzählung darf man an dieser Stelle nicht erwarten. Der bevorstehende Umzug bildet vielmehr den Rahmen für ein vielseitiges Mosaik an Assoziationen, die von all diesen Dingen und Ereignissen ausgehen.

Noch Notiz oder bereits Manuskript? Über Hilfsverben macht sich die Erzählerin in „Schon bald“ viele Gedanken. Fast genau in dem Wortlaut, mit dem es hier entworfen wurde. Bild: Bettina Schnerr

Relativ spontanes freies Theater

Dass Zsuzsanna Gahse ihrem Schreiben kein Korsett gibt, kennzeichnet all ihre Werke. Zuletzt zu beobachten bei «Siebenundsiebzig Geschwister», das von „Erzählinseln“ geprägt ist. Auch „Schon bald“ passt in keine der gängigen Kategorien und spielt mit einer Mischung aus Poesie und Prosa. „Erzählinseln“ könnte eine Genrebezeichnung sein, die für Gahse erfunden worden zu sein scheint.

Die Leere der Räume und vor allem ihre Lage zueinander bringt die sprachverliebte Protagonistin auf die Idee, sie als Bühne zu nutzen. Für Theaterstücke nach ihren Regeln: Kurze Szenen mit grober Vorgabe und Textkomponenten, die von den Schauspielern recht spontan zusammengestellt werden können. In der Machart spiegelt sich die assoziative Form des Buchs. Die Erzählerin nennt ihren Stil „relativ spontanes freies Theater“.

«Die vorangehende Probephase hier im Haus war quasi ein Basar, wo die einzelnen Wörter mit ihren Clans und Anhängern frei flanieren konnten, bis wir sie zu sortieren begannen.»

Aus Zsuzsanna Gahse «Schon bald»

Manch eine Passage könnte man sich probeweise laut vorlesen oder mit unterschiedlichen Betonungen spielen. Vielleicht kommt man Gahse so auf die Schliche, einer Schriftstellerin, die mit Wörtern spielt, sich an ihrem Klang erfreut, sie einfach wegen des Klanges neu kombiniert, etymologisch untersucht und weiterziehen lässt. Nicht umsonst versuchen sich ihre Protagonistin und die Schauspieler in verschiedenen Stimmlagen, Chören oder dem Kreuz-und-quer-Sprechen.

Vergrösserte Textfragmente

Zsuzsanna Gahse, die für ihr Gesamtwerk in diesem Jahr mit dem Schweizer Grand Prix Literatur ausgezeichnet wurde, verrät ihre Arbeitsweise, wenn man so will, aktuell auf zweierlei Wegen. Der eine steckt in „Schon bald“: Die Schauspieler arbeiten durchaus mit kleinen Vorgaben und vorab fixierten Elementen. Sie sind gleichzeitig eingeladen zu improvisieren. Auf diese Weise verhindert die Protagonistin in ihrem Theaterstück eine lineare Geschichte. Sie entwickelt Szenen, die bei jeder Vorstellung gewollt anders aussehen werden. Wären Gahses Texte nicht in Buchform fixiert, könnte man sich gut vorstellen, dass sie ausserhalb der Buchdeckel ein weiteres Leben entwickeln. Ganz so wie dieses Theaterstück.

«Die Schauspieler kennen die Verkürzungen samt ihren unverzichtbaren Pflichtsätzen, die sie auf ihre Weise ausbauen können, und bei diesen Teilstücken erlebt das Publikum nie die vollständigen Originale, aber wir zoomen Fragmente heran, und damit vergrössern wir sie.»

Aus Zsuzsanna Gahse «Schon bald» 

Eine anderer Entdeckungsweg ist ihr Schreiben selbst. Unter dem Titel „Schriftbilder“ stellt der Kunstraum Kreuzlingen erstmals Manuskripte und Notizen von Zsuzsanna Gahse aus. In den Vitrinen zu sehen sind noch bis zum 13. Oktober Kärtchen, Notizbüchlein und Bögen, beschrieben mit schwarzer Tinte. Denen sieht man genau an, warum so viele Portraits über die gebürtige Ungarin den ersten Satz aus ihrem Debüt „Zero“ (1983) zitieren: "Es ist schön, das Schreiben" Gahse zieht öfter einmal Sätze und Wörter munter über die Seite, spielt mit Schreibrichtungen und wenn sie Lust hat, bildet sie aus den Sätzen Schraffuren.

Wer „Schon bald“ kennt, entdeckt in der Ausstellung so manche Passage, die in dieser oder eine leichten Variation ihren Weg ins Buch fand. Selbst den Grundriss der Wohnung, in der Gahse ihr Buch spielen lässt, hatte sie sich in einem Ringbuch vorab aufgezeichnet (übrigens ist dieser im Buch ebenfalls zu finden). Wer weiss, ob Zsuzsanna Gahse nicht eines Tages eine Schachtel mit Textfragmenten herausbringt, solche, wie sie die Protagonisten selbst auch anlegt, und den Leser am Ende selbst entscheiden lässt, in welcher Reihenfolge er die Kärtchen lesen will. Passen würde es zu ihr.

Der originale Grundriss aus Zsuzsanna Gahses Notizbüchern, den sie während der Arbeit an „Schon bald“ entwickelt hatte. Bild: Bettina Schnerr

 

Das Buch & die Lesung

Zsuzsanna Gahse: Schon bald
Edition Korrespondenzen, Wien
144 Seiten, Hardcover, fadengeheftet, mit Lesebändchen
ISBN 978-3-902951-43-4

 

Die Lesung: Am Sonntag, 24. November, 11 Uhr, liest Zsuzsanna Gahse aus «Schon bald» im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben.

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