Seite vorlesen

Gequatsche kills the festival star

Gequatsche kills the festival star
Depeche Mode auf der Sitterbühne am OpenAir St.Gallen fotografiert am Samstag 30.06.2018. | © Manuel Lopez/OpenAir St.Gallen

Geht es bei Musikfestivals eigentlich noch um die Musik? Einige Publikumsreaktionen beim Open Air St. Gallen 2018 liessen daran zweifeln. Es wird Zeit für eine Rückbesinnung.

Nur mal angenommen, die Veranstalter des Open Air St.Gallen wollten mit der Programmation ihrer diesjährigen Ausgabe des Traditionsfestivals auf ein Dilemma der zeitgenössischen Rockmusik hinweisen, dann ist ihnen das am Ende sehr eindrucksvoll gelungen. Es ist das alte Dilemma, dem sich jede Rockband stellen muss, die mal ein bisschen am Erfolg geschnuppert hat. Dieses Dilemma stellt sich in der Frage: Wie soll es nach dem ersten Erfolg weitergehen? Die Antworten darauf fallen höchst unterschiedlich aus: Manche Bands lassen sich davon nicht kirre machen und vertrauen auf ihr künstlerisches Talent. Andere Bands lassen sich vom Erfolg verführen, wollen ihn um jeden Preis behalten und geraten so ins künstlerische Niemandsland. 

Beide Modelle konnte man am diesjährigen Open Air St.Gallen sehr schön vergleichen. Auf der einen Seite die Weltband Depeche Mode, die schon so viel in ihrer fast 40-jährigen Geschichte durchgemacht hat, dass sie vermutlich gar nichts mehr kirre machen kann. Auf der anderen Seite The Killers aus Las Vegas, die mal als neuer heisser Scheiss der Rockszene galten, dann aber irgendwann nach dem zweiten Album „Sam’s Town“ auf so merkwürdige Abwege geraten sind, das man sich fragen muss, wie das eigentlich passieren konnte. Womöglich hat sie der anfängliche Erfolg tatsächlich verführt. Ihr Auftritt auf der Sitterbühne am frühen Sonntagabend führte jedenfalls nochmal dramatisch die betrübliche Entwicklung dieser an sich talentierten Musiker vor Augen: Vom Anspruch, den Rock zu reformieren, runter zum Anspruch sich mit jedem neuen Song nur noch für den Soundtrack eines nächsten Disney-Animationsfilms zu qualifizieren. Das muss man auch erst mal schaffen. 

Gibt alles: Depeche-Mode-Frontmann Dave Gahan auf der Sitterbühne am OpenAir St.Gallen. Bild: Nick Lobeck
Gab alles: Depeche-Mode-Frontmann Dave Gahan auf der Sitterbühne am OpenAir St.Gallen. Bild: Nick Lobeck

Was ist los mit diesem Publikum?

Das Set, das die Jungs aus dem US-Bundesstaat Nevada am Sonntag spielte, zeigte das recht anschaulich: Frontmann Brandon Flowers, eine Zierde für jeden Modekatalog, eröffnete explosionsartig mit den Brettern „Mr Brightside“ und „Somebody told me“ vom Debütalbum „Hot fuss“ (2003). Damit hatte er das Publikum, wie man so sagt, im Sack: Ab da machten sie alles mit und liessen sich gefällig euphorisieren von jedem „Uh-oh, uh-oh, uh-oh, uh-oh“. Musikalisch ging es danach allerdings rasant bergab. Die Songs „Spaceman“ (aus dem Jahr 2008), „The way it was“ (2012), „Shot at the night“ (2017) sind an Beliebigkeit kaum zu überbieten, das hätten auch Bon Jovi nicht schlechter gemacht. Dass die Stimmung im Publikum an diesem Sonntagabend dennoch um Längen besser war als bei dem Auftritt von Depeche Mode einen Abend zuvor, kann einen nachdenklich stimmen: Was ist los mit einem Publikum, das den harmlosen Gute-Laune-Poprock der Killers mehr abfeiert als die grossartigen Hymnen der stilprägenden Depeche Mode? 

Tatsächlich war das ja eine einigermassen befremdliche Erfahrung für Fans von Musik im Allgemeinen und Depeche Mode im Speziellen, als sie am Samstagabend erleben mussten, dass sich ein Teil des Publikums kaum für das interessierte, was die Jungs um Dave Gahan da auf die Bühne zauberten. Sie quatschten und feixten lieber mit Nebenmann und Nebenfrau. Die Musik war da endgültig zum austauschbaren Rahmen degradiert. Selbst als Martin Gore eine berührende Version seiner Ballade „Somebody“ herzzereissend vortrug, ebbte das Gequatsche nicht ab. Dabei hatten die Synthie-Pop-Legenden vieles aufgeboten: Ihre Hymnen („Everything counts“, „Never let me down again“, „Stripped“, „Just can’t get enough“) ausgeklügelte Versionen von Hits („World in my eyes“) und das sprühende Charisma von Frontmann Dave Gahan, der sich an diesem Abend auch von seiner tänzerischen Seite zeigte. Am Ende gab es dann aber doch nur einen Moment, in dem es der Band gelang das gesamte Publikum zu elektrisieren: es brauchte schon den „Personal Jesus“ um das zu erreichen.  

Depeche Mode beenden das Konzert früher als geplant

Vielleicht war auch die Band am Ende ein bisschen genervt und enttäuscht von dem Publikum. Sie beendeten ihren Gig jedenfalls schon nach knappen 90 Minuten um 23.15 Uhr. Laut Programmheft hätten sie aber Zeit bis Mitternacht gehabt. 

Es war aber auch ein guter Anlass, mal über das nachzudenken, was da gerade passiert war. Eine Weltband erreicht Teile des Festivalpublikums nicht mehr, weil die lieber quatschen und feiern wollen und ihnen der Sinn eher weniger nach kunstfertigen Musikinterpretationen steht. Ist das neu? Oder war das schon immer so? Klar: Bei Festivals ging es schon immer auch um den Spass, das Feiern. Mehr noch als bei Einzelkonzerten. Aber spielte die Musik nicht auch mal bei Festivals eine grössere Rolle? Dazu passt: SRF3 hat während des Open Air eine kleine Umfrage unter Besuchern gemacht, welche Konzerte sie schon gesehen haben. Nicht wenige antworteten: Keins.  Kann man machen, aber wenn man eigentlich nur mit Freunden zelten will, gäbe es da nicht günstigere Alternativen als ein Festival?

Die Rolle der Festivalchefs wird immer wichtiger

Die Frage ist ja auch: Wenn die Musik bei Musikfestivals immer unwichtiger wird, was folgt dann daraus? Wenn es eh egal ist, was da auf der Bühne passiert, könnten die Veranstalter ja zum Beispiel auch dazu übergehen, auf die Buchung teurer Bands wie Depeche Mode, Nine Inch Nails oder Radiohead zu ´verzichten. Deshalb wird die Rolle der Festivalchefs und -chefinnen immer wichtiger. Es ist ihre Aufgabe, genau das zu verhindern und den Kunst-Anspruch an die zeitgenössische Rock- und Popmusik nicht komplett aufzugeben. Bislang ist das beim Open Air St. Gallen immer sehr gut gelungen: Auch in diesem Jahr blieb Platz für herausragende Shows wie jenen von Chvrches, Editors, Nine Inch Nails, Depeche Mode und vielen mehr. Ob das auch in Zukunft so bleibt? Man wird sehen. Die Verpflichtung der Spass-Punker „Die Ärzte“ als erster Headliner für 2019 (27. bis 30. Juni, Tickets dafür gibt es ab 4. Juli) ist aber vielleicht ein kleiner Fingerzeig, in welche Richtung es gehen könnte.

Frontfrau Lauren Mayberry von den CHVRCHES beim Open Air St. Gallen 2018
Frontfrau Lauren Mayberry von den CHVRCHES beim Open Air St. Gallen 2018. Bild: Marius Joe Pohl
CHVRCHES auf Sitterbühne am OpenAir St.Gallen fotografiert am Samstag 30.06.2018.
CHVRCHES auf Sitterbühne am OpenAir St.Gallen. Bild: Nick Lobeck

 

Mehr Bilder vom Festival gibt es auf der Internetseite des Open Air St. Gallen: https://www.openairsg.ch/gallery/fotos/  

Videos vom Open Air St. Gallen

So erobern Depeche Mode die Bühne live beim OpenAir St.Gallen - official!

Depeche Mode live OpenAir St.Gallen - official Teil 3: „Never let me down again“

The Killers live beim OpenAir St.Gallen - official! „Somebody told me“

Publikum explodiert bei den Beatsteaks und die spielen „Where is my mind“ von den PIXIES beim OpenAir St.Gallen - official!

CHVRCHES live beim OpenAir St.Gallen - official

 

Kommentare werden geladen...

Werbung

Hinter den Kulissen von thurgaukultur.ch

Redaktionsleiter Michael Lünstroth spricht im Startist-Podcast von Stephan Militz über seine Arbeit bei thurgaukultur.ch und die Lage der Kultur im Thurgau. Jetzt reinhören!

Austauschtreffen igKultur Ost

Für eine starke Kulturstimme im Kanton Thurgau! Dienstag, 11. Juni 2024, 18.00 Uhr, Kult-X Kreuzlingen.

Literaturpreis «Das zweite Buch» 2024

Die Marianne und Curt Dienemann Stiftung Luzern schreibt zum siebten Mal den Dienemann-Literaturpreis für deutschsprachige Autorinnen und Autoren in der Schweiz aus. Eingabefrist: 30. April 2024

Atelierstipendium Belgrad 2025/2026

Bewerbungsdauer: 1.-30. April 2024 über die digitale Gesuchsplattform der Kulturstiftung Thurgau.

Ähnliche Beiträge

Musik

Machen statt labern

Vor zwei Jahren hat Stephan Militz das Kreuzlinger Kulturzentrum Kult-X im Streit verlassen. Jetzt hat er viele neue Ideen, um die Thurgauer Kulturlandschaft zu bereichern. mehr

Musik

Auch Punks werden älter

Vor 40 Jahren feierte das Performance-Kollektiv Halle K bei der grossen Kreuzlinger Kunstausstellung im Bellevue seinen Durchbruch. Jetzt kehrt die Gruppe an den Ort ihres Triumphs zurück. mehr

Musik

Von der Schulbank auf die Bühne

Jung und erfolgreich: Die in Frauenfeld gegründete Band The Rising Lights hat im Dezember den Kleinen Prix Walo gewonnen. mehr