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von Maria Schorpp, 28.03.2018

Der Menschenmacher

Der Menschenmacher
"Es hätte mich zur Kunst gezogen": Jossi Wieler über sein Leben, wenn er es noch mal von vorne begönne. | © Martin Sigmund

Der diesjährige Kulturpreis des Kantons Thurgau geht an den international erfolgreichen und mehrfach ausgezeichneten Theater- und Opernregisseur Jossi Wieler. Ein Porträt.

Es gibt so etwas wie offizielle Schweizer Eigenschaften. Die lauten in ungefähr: Redlichkeit, Höflichkeit, Gründlichkeit, Geduld. Der Regisseur und frühere Stuttgarter Opernintendant Jossi Wieler ist in diesem Sinne ein offizieller Schweizer. Bis heute haften ihm solche nationalen Identitätsmerkmale an, obwohl (oder weil?) er schon lange hauptsächlich an deutschen Bühnen arbeitet. Er selbst macht ganz konkret eine Landschaft mit dafür verantwortlich, was aus ihm als Mensch geworden ist, ein bisschen zumindest. Jossi Wieler – Regisseur des Jahres 1994, Konrad-Wolf-Preis 2002, Deutscher Theaterpreis 2005, Nestroy-Preis 2009 und jetzt der Thurgauer Kulturpreis – wurde in Kreuzlingen geboren und ist in den 1950er und 1960er Jahren hier aufgewachsen. „Die Landschaft, die Sanftheit, das fast Idyllische: Das trage ich in mir, wo immer ich bin.“ Das klingt nach innerer Verbundenheit.

Dabei hat er schon vor vielen Jahren die Bodenseeregion hinter sich gelassen, und da keine nahen Verwandten mehr hier leben, kommt er auch nur noch gelegentlich vorbei. Unter anderem für Kulturelles. Das Konzil-Jubiläum fällt ihm als letzter Anlass ein. Jossi Wielers Familie ist bereits in den 1960er und 1970er Jahren nach Israel ausgewandert, auch er selbst, nachdem er in Frauenfeld die Matura abgelegt hatte. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern und Eltern kam er aber zurück – um eine in vielerlei Hinsicht aussergewöhnliche Karriere als Theater- und Opernregisseur zu machen.

Nach der Matura in Frauenfeld, geht er nach Israel

„Zurückkommen“ ist nicht ganz korrekt, denn Jossi Wielers Ziel lag 1980 in Deutschland. Er wurde nach einer Regieausbildung an der Universität Tel Aviv Regieassistent am Düsseldorfer Schauspielhaus. Bis auf Basel und Zürich und Gastaufenthalten im Ausland befanden sich seine Arbeitsplätze bis heute hauptsächlich in Deutschland, seit 2011 eben als Intendant der Staatsoper Stuttgart. Am Ende der Spielzeit 2017/2018 hat Jossi Wieler die Leitung des Hauses auf eigenen Wunsch abgegeben, obwohl er nur das Beste über es zu sagen weiss. „Bevor das Intendantsein zu bequem wird, möchte ich mich noch etwas anders organisieren“, sagt der 66-Jährige, weit davon entfernt, es sich bequem zu machen. Bislang hat er auch als Intendant zwei Inszenierungen pro Spielzeit abgeliefert. Er wird eine Zäsur machen, wieder als freier Regisseur unterwegs sein und vor allem auch wieder Schauspiel inszenieren.

An deutschen Theatern hat sich Jossi Wieler jene Zuschreibungen eingehandelt, die ihn als echten Schweizer kennzeichnen, obwohl er nicht mal einen ordentlichen Schweizer Akzent vorweisen kann. Dass die vermeintlich klischierten Attribute jedoch auf die angenehmste Weise zutreffen könnten, wird im Umgang mit ihm schnell offensichtlich. Es macht die grosse Karriere des Jossi Wieler nochmals ganz besonders.

Jossi Wieler (links) bei der Probe zur Neuproduktion der Oper „Don Pasquale“ von Gaetano Donizetti im Gespräch mit dem Chefdramaturgen und Co-Regisseur Sergio Morabito (rechts) sowie Mitwirkenden der Produktion.Jossi Wieler (links) bei der Probe zur Neuproduktion der Oper „Don Pasquale“ von Gaetano Donizetti im Gespräch mit dem Chefdramaturgen und Co-Regisseur Sergio Morabito (rechts) sowie Mitwirkenden der Produktion. Bild: Martin Sigmund  

„Ich bin nicht der geborene Regisseur“, sagt er im Gespräch – eine Feststellung, die der Regisseur bei der Gelegenheit nicht zum ersten Mal macht. Wenn man Augenzeugenberichte von Weggefährten nachliest, meint das so viel wie: Er gehört nicht zu den Regisseuren, die die Menschen, mit denen sie arbeiten, auf Biegen und Brechen und im Ernstfall mit Gebrüll ihren Willen und ihre Vorstellungen aufzwingen: „Ich sehe mich nicht in der Position eines Menschen, der alles besser weiss“, sagt er selbst. Was wiederum nicht heissen soll, dass er keine Richtung vorgeben würde – allerdings im Dialog. Sein Ziel ist, künstlerische Synergien zu erzeugen, „damit etwas Neues und Grenzüberschreitendes entstehen kann“. Ursprünglich wollte er beruflich in Richtung Psychologie und Sozialarbeit gehen. Mit der Entscheidung, Theaterregisseur zu werden, hat er diese Impulse nicht ignoriert, sondern umgeleitet in die Arbeit mit Menschen auf und neben der Bühne.

Für die Oper musste Jossi Wieler von Klaus Zehelein, seinem Vorvorgänger als Opernintendant in Stuttgart, erst überredet werden. Schliesslich hatte er „nur“ Regisseur fürs Sprechtheater gelernt. Sein Hinweis auf den Flötenunterricht, für den er als Schüler regelmässig die Grenze nach Konstanz überquerte, soll wohl eher noch seine vermeintlich mangelnde Kompetenz zu jener Zeit betonen. Vielleicht ist auch ein bisschen Selbstironie dabei. Für den mit den höchsten Ehren des deutschsprachigen Theaters Ausgezeichneten ist das Musiktheater jedenfalls „die kollektivste Kunstform“ überhaupt, ein „Ineinandergreifen von allem“. Dazu passt, dass Jossi Wieler die Regieaufgabe bei Operninszenierungen mit dem Dramaturgen Sergio Morabito teilt, ein seltenes Phänomen an Bühnen. Unter anderem wurden die beiden von der Zeitschrift „Opernwelt“ 2001 zum Regieteam des Jahres gewählt.

Seine Dialogbereitschaft und Offenheit sind legendär

Die Oper ist für Jossi Wieler im gesellschaftlichen Sinne geradezu „ein utopischer Raum“. In einem Gespräch mit der Zeitschrift „Theater heute“ (die ihm während seiner Regieausbildung in Tel Aviv die Überzeugung eingab, dass er zum Theatermachen in die damalige Bundesrepublik Deutschland müsse) grenzt er die eher monologisierende Sprechprobe im Theater von einer Opernprobe so ab: „Wenn man dagegen zusammen ein Lied singt, muss man aufeinander hören.“ Wielers Dialogbereitschaft und Offenheit gegenüber anderen Standpunkten, nicht nur bei den Proben, sind legendär.

Dass dabei am Ende diese abgrundtief menschlichen Inszenierungen herauskommen – von denen Elfriede Jelinek sagt, Jossi Wieler bestimme Menschen auf der Bühne, und sie seien Menschen, indem er sie dazu bestimme – hatte auch seinen Preis. Auf das Scheitern angesprochen wird der renommierte Regisseur sehr ernst. Ein wichtiges Thema für ihn: „Scheitern gehört so essentiell zur Kunst und zum künstlerischen Dasein wie der Erfolg.“ Gerade weil Wieler keinerlei herrschsüchtige Züge an sich hat, sondern „sich zuallererst in die Vielzahl seiner Schauspielerpartner qua Empathie auflöst, bevor er sich und seine Position zur Geltung bringt“ (Regisseur und Theaterwissenschaftler Hajo Kurzenberger), ging das nicht immer gut aus. Am Theater Basel platzte 1989 sogar eine Inszenierung am Widerstand von Schauspielern. Zum „Wunder von Basel“ kam es aber trotzdem. Bereits drei Jahre zuvor war Jossi Wieler zum ersten Mal zum Theatertreffen in Berlin eingeladen worden. Drei weitere Einladungen folgten.

Die Überwindung der eigenen Angst als Motivation

Wie durchsetzungsstrak solche „Soft Skills“ sein können, wenn sie jemand aus tiefer Überzeugung lebt, ist einem Artikel der Theaterkritikerin Renate Klett zu entnehmen, die Jossi Wieler 1997 auf einer Gastinszenierung von Tankred Dorsts „Herr Paul“ nach Tokio begleitete. Hier traf der dialogbereite Regisseur auf Schauspieler, die ein „respektvolles Meister-Schüler-Verhältnis“ gewohnt waren. „Ich konnte damals bei einigen Proben zuschauen und erinnere mich an stundenlange, gespenstisch höfliche Missverständnisse“, schreibt sie. Nach acht Wochen hatte Wieler, „geduldig, freundlich und unerbittlich“, die Inszenierung, die ihm wohl vorschwebte. Jossi Wielers eigene Wahrnehmungen in der Erinnerung: „Damals war ich so viel ‚Meister’ wie nie zuvor und wie ich es nie wieder sein will.“

Wo ihm früher die Überwindung seiner eigenen Angst Motivation war, hört sich der Regisseur heute gelassen an: „Ich geniesse jede Probe, künstlerische Freiheit ist ein grosses Privileg.“ Dabei könnte man auf die Idee kommen, sein Leben als Regisseur sei einem grossen Zufall geschuldet, der ihm in Jerusalem an der Universität widerfuhr, wo er durch einen Theaterkurs überhaupt erst aktiv mit dem Metier in Berührung kam. Darauf angesprochen antwortet Jossi Wieler mit einem anderen Schweizer – mit Max Frisch.

Der Dramatiker und Schriftsteller hat in mehreren seiner Arbeiten darüber nachgedacht, was wäre, wenn man bei vollem Bewusstsein seiner Biografie noch einmal von vorne beginnen könnte. Frisch kommt zum Schluss, dass man wohl aller Zufälle zum Trotz ungefähr das gleiche Leben noch einmal leben würde. Für Jossi Wieler ist das stimmig: „Aus der Distanz der Jahre würde ich sagen: Der Zufall war keiner. Ich wäre über Umwege zum Theater gekommen. Es hätte mich zur Kunst gezogen.“

Wenn er also alles noch einmal leben könnte, würde er möglicherweise seine Kinder- und Jugendzeit wieder am Bodensee verbringen: „Beim Gedanken an einen Sonntag am Untersee – das ist fast wie Meditation.“ Ist das Heimweh?

Video: Jossi Wieler im Interview

Der Thurgauer Kulturpreis

Mit dem Preis, der seit 1986 vergeben wird, spricht der Regierungsrat seinen Dank und seine Anerkennung aus für ausserordentliche kulturelle Leistungen von Privaten und von Institutionen, die das kulturelle Leben im Kanton in besonderer Weise bereichern. Eine Auswahl möglicher Trägerinnen und Träger des Kulturpreises wird dem Regierungsrat jeweils von der Kulturkommission des Kantons Thurgau vorgeschlagen.

 

Der mit 20 000 Franken dotierte Thurgauer Kulturpreis wird am Donnerstag, 22. August 2019, um 19.30 Uhr im Rahmen einer öffentlichen Feier im Seemuseum Kreuzlingen durch Regierungsrätin Monika Knill, Chefin des Departements für Erziehung und Kultur, übergeben. Die Laudatio hält der Theaterwissenschaftler und Dramaturg Hajo Kurzenberger.

 

 

 

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