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von Andrin Uetz, 02.06.2023

Die klingende Verortung in der Gegenwart

Die klingende Verortung in der Gegenwart
Rahel Kraft bei der Performance "Not to Disappear" (2022) im Rahmen des Wildwuchs Festival Basel. | © Tim Wettstein

Die Sängerin Rahel Kraft erhält zum zweiten Mal einen personenbezogenen Förderbeitrag des Kulturamt des Kanton Thurgau. An der Schnittstelle zwischen Zeitgenössischer Musik und Forschung. (Lesezeit: ca. 2 Minuten)

Es gibt Sängerinnen, deren Kunst vor allem darin besteht, auf einer Bühne zu stehen, ein Publikum mit Gesang zu begeistern, sich dann zu verneigen und den Applaus zu geniessen. Rahel Kraft beherrscht als studierte Jazz-Sängerin diese Kunst zwar auch, doch ihr vielseitiges Schaffen ist geprägt von der Suche nach neuen Formaten und dem Aufbrechen der herkömmlichen Konzertsituation.

Performances im Freien, Soundwalks, interaktive und partizipative Formate und Installationen sind Teil ihrer Arbeit, die oft mit ganz grundlegenden Fragen beginnt und teilweise durchaus wissenschaftliche Ansätze miteinbezieht. Dies auch, um festgefahrene Denk- und Hörgewohnheiten aufzulockern.

Zwischen Klangkunst und Sonic Ecology

Zur Zeit befindet sich Rahel Kraft in Hokkaidō. Auf der Japanischen Insel untersucht sie ein Sumpfgebiet. Wer nun an eine naturwissenschaftliche Exkursion denkt, liegt gar nicht so falsch. Aber Kraft sammelt weniger Daten oder Gewässerproben, sondern sie erstellt Klangaufnahmen. Mit einem Kajak begibt sie sich ins feuchte Terrain und sammelt mit Stereo-Mikrophonen sowie mit einem Hydrophon Sounds dieser Ökosysteme.

“Ich bin zwar keine Naturwissenschaftlerin, aber ich denke schon, dass man aus diesen Aufnahmen auch etwas über den Zustand eines Ökosystems lernt. Es gibt hier beispielsweise einen See, der nah an einer intensiv genutzten Landwirtschaftszone liegt, wodurch sehr viele Pestizide in den See gelangen. Der See ist ganz still, da lebt fast nichts mehr drin”, beschreibt Kraft ihre Beobachtungen bei der Exkursion.

Performance: Airstrollers
Schirme als Lautsprecher bei der Sound-Performance "Airstroller" (2022) im Sitterwerk St. Gallen. Bild: Jirka Makovec

 

Akustemologischer Weltbezug

“Das interessante am Klang der Umwelt ist, dass er mir eine Möglichkeit gibt eine Verbindung mit der Natur einzugehen. Beispielsweise diese Feuchtgebiete hier in Hokkaidō sind an sich nicht besonders einladend, es gibt viele Mücken, das Klima ist rau und unwirtlich. Aber sobald ein Lebewesen oder eine Pflanze einen Klang produziert, wird sie für mich irgendwie nahbarer und interessanter”, erklärt Kraft ihre Faszination für Fieldrecordings und das Hören im Feld.

Eine solche “Akustemologie” – wie der Ethnologe Steven Feld diesen akustischen Weltbezug theoretisiert – nimmt in der künstlerischen Praxis von Kraft eine zentrale Rolle ein. So hat sie vor Hokkaidō bereits in der Lagune von Venedig Unterwasseraufnahmen erstellt, und liess diese dann in ihre Performance “Airstroller” miteinfliessen. Dadurch bekommt eine normalerweise nur schwer hörbare Umgebung eine akustische Dringlich- und Zugänglichkeit.

Regenschirme als Lautsprecher

Kraft arbeitet aber nicht nur mit Fieldrecordings, sondern ihre Performances finden oft im Freien oder an für Konzerte eher ungewöhnlichen Orten statt. Dabei geht es um die Grundfragen wie Künstlerin und Publikum sich zum Raum verhalten. Um die Brüche und Situationen, die Zufälle und Bewegung, welche im Freien weniger vorhersehbar und konstruiert sind als auf einer Bühne.

So werden auch Regenschirme zu Lautsprechern umfunktioniert, Sängerinnen tauchen ins Wasser und das Publikum kann sich frei bewegen. Das Konzert wird so im besten Fall zu einem transformativen Erlebnis, welches Beziehungen schafft zwischen dem Publikum, Orten und Klängen.

Demokratisierung des Hörens

Mit dem Förderbeitrag des Kulturamts will Rahel Kraft ihre partizipativen Arbeiten weiterentwickeln. Dabei hat sie drei Grundfragen, denen sie sich widmen will. Erstens, wie kann eine Demokratisierung des Hörens in einer Performance umgesetzt werden? Also etwa die Möglichkeit geboten werden, dass das Publikum sich frei bewegen kann. Zweitens, wie können Lautsprecher anders aussehen? Die klingenden Regenschirme sind nur eine von vielen Möglichkeiten, wie die etablierte Form von Lautsprechern erweitert werden könnte. Drittens, wie kann eine Komposition von Grund auf in einer Gruppe erarbeitet werden?

Dafür ist Rahel Kraft bereits mit drei bis fünf Leute im Austausch. Diese neue Produktion soll zudem inhaltlich auf den Fieldrecordings aus Hokkaidō und Venedig aufbauen. Wo diese Produktion genau stattfinden soll, ist noch nicht definitiv, aber Kraft hat mehrere Ideen für Festivals und Orte, welche dafür in Frage kämen. Wichtig sei ihr auch, dass diese Performance nicht nur für einen Ort erarbeitet wird, sondern an mehreren Stationen aufgeführt werden könnte. Wer weiss, vielleicht findet sich auch im an interessanten Freiräumen nicht armen Kanton Thurgau eine geeignete Infrastruktur dafür.

Zu Serie der Förderbeiträge

Die Serie: Alle ausgezeichneten Künstler:innen stellen wir in persönlichen Porträts vor. Sie erscheinen nach und nach in den nächsten Wochen bis zur Preisvergabe im Greuterhof Islikon am 7. Juni 2023. Alle Beiträge werden im Themendossier «Förderbeiträge» gebündelt. Dort finden sich auch Texte zu früheren Preisträger:innen.

 

Die Förderbeiträge: Die sechs jeweils mit 25'000 Franken dotierten Förderbeiträge vergibt der Kanton Thurgau einmal im Jahr. Mit der Auszeichnung soll eine künstlerische Entwicklung ermöglicht werden. Die Förderbeiträge wurden von einer Jury vergeben, die sich aus den Fachreferentinnen und -referenten des Kulturamts und externen Fachpersonen zusammensetzt. „Die Anzahl und Qualität der eingegangenen Bewerbungen war in diesem Jahr ausserordentlich hoch“, schreibt das kantonale Kulturamt in einer Medienmitteilung zur Preisvergabe.

 

Die Jury: Der diesjährigen Jury gehörten an: Annette Amberg, Kuratorin; Marcel Grissmer, Theaterschaffender; Lea Gabriela Heinzer, Musikerin; Pat Kasper, Musiker; Florian Keller, Journalist und Veranstalter; Patrizia Keller, Kuratorin; Markus Landert, Direktor Kunst- und Ittinger Museum Thurgau; Carina Neumer, Tanzschaffende; Simone Reutlinger, Musikwissenschaftlerin; Karin Schwarzbek, Künstlerin; Anja Tobler, Schauspielerin; Laura Vogt, Autorin; Regula Walser, Lektorin; Julia Zutavern, Filmschaffende; sowie Michelle Geser, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kulturamts (Vorsitz).

 

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