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von Barbara Camenzind, 16.04.2020

Lockdown der Seele

Lockdown der Seele
Was macht der Lockdown mit ohnehin schon angegriffenen Seelen? Unsere Korrespondentin Barbara Camenzind gibt eine sehr überraschende und berührende Antwort darauf. | © Canva

Das was die meisten von uns gerade als Ausnahmesituation erleben, ist für psychisch erkrankte Menschen Alltag. Unsere Musikkorrespondentin ist auch betoffen. Sie beschreibt, wie sie die Corona-Wochen gerade erlebt.

Zuerst war es einfach eine Meldung, die überflogen wurde. In China ein neuartiges Virus entdeckt. Ziemlich ansteckend. Aber eben in China. Weit weg. Dann wurden die ersten Fälle in Europa gemeldet. In Italien, in Tirol. Erste Warnungen wurden ausgesprochen. Bleiben Sie auf Distanz.

Als ich gut drei Jahre nach der Geburt meiner Tochter die Diagnose „Bipolare Störung“ bekam, reagierte ich ähnlich. Ich konnte mit dieser Diagnose überhaupt nichts anfangen. Frisch getrennt vom Kindsvater hatte ich andere Sorgen als die Achterbahnfahrt meiner Seele. Ich bin doch ok. Sonst gesund, ich muss Geld verdienen. Womöglich war die jahrelange Schmerzerkrankung, die neurologisch wirksam wurde, mit daran schuld. So what. Abhaken, weitermachen. Nur nicht darüber nachdenken. Ja, ich reagierte wie ein Skigebiet vor der drohenden Schliessung am 16. März 2020.

Ich versuchte, mir selbst zu helfen, mit Arbeit. Viel zu viel Arbeit. Und mit Ausgang, Bars, Konzerte, ein Hansdampfin in allen Gassen. Chaos. Wenn ich nicht mehr konnte - also eigentlich konnte ich ja schon lange nicht mehr - griff ich zur Flasche. Dieser hilflose Selbstregulierungsversuch führte dann zu meinem persönlichen Lockdown. Autounfall - Sorgerechtsstreit - Ehrverlust. Ich war am Ende.

„Bleiben Sie zu Hause“ - Die Krankheitseinsicht

Zum Glück hatte und habe ich meinen ganz persönlichen Alain Berset. Meine behandelnde Ärztin hat mich nicht aufgegeben. Und sie ist meine grosse Autoritätsperson, sonst hätte ich wohl nicht überlebt. Ansonsten reagiere ich auf Autoritäres eher kritisch.

Fieserweise können psychische Erkrankungen nicht einfach so repariert werden. Ich kann nicht sagen, dass die anderen jetzt mal machen sollen. Ich muss selber. Das nennt sich Krankheitseinsicht. Von diesem Endpunkt aus lernte ich mit ihrer Hilfe, mein Leben wieder neu aufzurollen. Und zu verzichten. Das ist heute noch das Schwerste.

100 Prozent arbeiten, Konzerte organisieren? Viel zu anstrengend. Auftritte als Sängerin: Nur, wenn ich mich ganz sicher fühle. Ein Konzert besuchen, einfach, weil es mich freut? Sehr schwierig. Aus der Vielfalt des kulturellen Angebots unseres gewöhnlichen Alltags bin ich raus.

Das ärgert die gesunde Barbara zuweilen ganz gewaltig, aber sie muss sich an die Spielregeln halten. Ich arbeite heute noch tagtäglich daran, dass der gesunde Teil in mir gewinnt. Und ich bin langsam recht gut darin.

Kulturelle Teilhabe ist ein kostbares Gut. Zu jeder Zeit. Bild: Barbara Camenzind

Die ausserordentliche Situation

Meine Welt ist klein geworden. Ich bin von einem Aussenmenschen zu einem Innenmenschen geworden. Spüre genau nach, was mir gut tut und was nicht. Das „Kulturgeschäft“ hat seine harten Seiten, ich musste Strategien entwickeln, trotzdem noch ein Teil davon sein zu können. Über Musik schreiben ist eine. Im Theater als Souffleuse und Übertitelinspizientin tätig sein eine andere. So erlebe ich Kultur und bin in einer Rolle fokussiert.

Ein Abend einfach so unter vielen Menschen ist schön, aber für meine zu offenen Kanäle sehr stressig. Habe ich etwas zu tun, geht es mir sehr gut. Und ich erlebe Wertschätzung.

Jetzt steht die Schweizer Kultur still. Viele hätten sich an Ostern auf eine Johannespassion gefreut. Oder auf eine Oper, oder eine Uraufführung. Dieses „Hätte“, kenn ich nur zu gut. Wenn ich vor dem Lockdown in die Veranstaltungskalender blickte, hätte ich mir gerne vieles angehört und angeschaut. Einfach so.

Und jetzt ist dieser Reigen unterbrochen und alle sind vom Aussen in das Innen abgestellt worden. So absurd es klingen mag: Ich fühle mich im Moment der Welt um mich herum wieder etwas gleicher, auch wenn ich keinem Chor, keinem Konzertveranstalter diese Situation wünschen wollte.

Das Netz als Chance

Der Stillstand unseres Landes hat auch mich getroffen. Mein Brotberuf ist zu mir nach Hause gekommen, dass ist für jemanden, der klare Strukturen, den Fokus braucht, um gesund zu bleiben, eine Herausforderung.

Allerdings gibt die Welt im Netz der gesunden Barbara schon lange die Chance, ohne Angst ihre Geschichten erzählen zu können. Und die gern mal ihren Witz und ihre Frechdachsigkeit einsetzt.

Jetzt, in dieser seltsamen Zeit, kommt durch das Internet die Kultur zu mir. Ich kann bei Lesungen, den Live-Schaltungen von Musizierenden dabei sein, kann mich freuen oder ärgern und erlebe, dass ich Kultur „einfach so“ wieder etwas geniessen lerne.

Darum, liebe Kulturschaffende da draussen: Eure Situation ist sehr schwierig. Aber ihr habt mir ein grosses Geschenk gemacht. Durch eure Auftritte online, praktiziert ihr eine Teilhabe, die mir Hoffnung macht. Die Hoffnung, euch live dann auch „einfach so“ mal geniessen zu können. Ihr helft mir gerade bei einer Rückeroberung eines Stücks Gesundheit. Danke!

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