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von Brigitte Elsner-Heller, 20.05.2019

Was für ein Leben!

Was für ein Leben!
Germaine Winterberg in der Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau: Einmal hören statt erzählen. | © Brigitte Elsner-Heller

Germaine Winterberg, geboren 1936, ist eine aussergewöhnliche Frau, die sich ihre Welt so erschlossen hat, wie sie es sich erträumte. „L'univers de Germaine“, ein Ausstellungsprojekt von Muda Mathis, Sus Zwick und Hipp Mathis, gewährt im Kunstmuseum Thurgau umfangreiche Einblicke.

Das abenteuerliche Leben scheint Germaine Winterberg schon in die Wiege gelegt worden zu sein. 1936 in Basel geboren, versuchte die Mutter zwar, ihre kleine Tochter zu behüten, doch die erwies sich bald als ein Wildfang. Der Besuch im Völkerkundemuseum untermauerte ihren Wunsch, Forscherin zu werden – wobei selbst der Vater meinte, dass eine Frau das nicht mache. Um ein abschreckendes Beispiel zu geben, erklärte er der Tochter, dass sie dann auch lebendige Würmer und Schnecken essen müsse. Und Germaine übte das heimlich. Übte auch in ihrer Kammer, Schmerzen auszuhalten, wie die Indianer bei Karl May. „Für meine Mutter war ich eine Enttäuschung. Für sie hätte ich ein zartes Engelchen sein sollen“, erzählt Germaine Winterberg, die heute 82 Jahre alt ist und immer noch von grosser Offenheit und Lebendigkeit.

So unkonventionell wie auch Helen Dahm lebte

Kennenlernen kann man die Frau, die dann tatsächlich so etwas wie eine Forscherin geworden ist, auch wenn sie nicht Ethnologie studiert hat, im Kunstmuseum des Kantons Thurgau in der Kartause Ittingen. Ihr gewidmet und von ihrem Leben angefüllt, ist dort die Ausstellung „L'univers de Germaine“ zu sehen, die gut an die noch laufende Retrospektive mit Bildern von Helen Dahm anknüpft, da auch bei Germaine Winterberg ein unkonventionelles Frauenleben zu betrachten ist.

Sichtbar unkonventionell, seit sich die junge Frau, die mit 15 Jahren als Bürogehilfin arbeitete, von ihrem ersten Gehalt im ersten Ethnoladen, der in Basel eröffnet hatte, einen Armreif kaufte sowie eine Knochenkette aus Neuguinea. Dass die aufgebrachte Mutter damals mit ihr in das Geschäft zurück ging, um sich wegen des Verkaufs an eine Minderjährige zu beschweren, hatte indes eine ganz andere Folge: Germaine durfte die Schmuckstücke behalten und konnte dafür jeden Samstagnachmittag dort arbeiten. „Ich habe dort viele interessante Leute kennengelernt, die gereist sind oder im Völkerkundemuseum gearbeitet haben“, erinnert sie sich.

Germaine Winterberg war in ihrem Leben auch viel unterwegs. Diese Bilder zeigen sie tanzend im ehemaligen Jugoslawien im Jahr 1963 (rechts) und in Tunesien 1974 (links). Bilder: Archiv Sigi und Germaine Winterberg

Erste Reisen führen in den Maghreb

Das Universum Germaine Winterbergs umfasste bald mehr als nur Basel und ihre Träume. Mit ihrem Lebenspartner Sigi, den sie als Fünfzehnjährige kennen- und später auch lieben lernte, fuhr sie mit einem 2CV nach Marokko, wo Sigi Textilien kaufte. „Er hat den Samen gelegt, und dann ist bei mir daraus ein Urwald geworden“, sagt sie heute lächelnd. Später, als ihr Partner durch ein Rückenleiden am Reisen gehindert war und die zwei Söhne des Paares geboren waren, ging Germaine Winterberg allein auf Reisen, arbeitete mit dem Völkerkundemuseum in Basel zusammen und unterrichtete am Lehrerinnenseminar aussereuropäische Textilkunst. Dann führte sie selbst mit ihrem Partner in Basel die Orientboutique „Indigo“, sympathisierte mit der Hippie-Szene und begeisterte sich in den 1990er Jahren auch noch für Techno.

Kann man ein Leben angemessen „präsentieren“?

Wie kann dieses Leben voller Reisen und Erinnerungen, angereichert zudem mit historischen Fotografien und originalen Tonaufnahmen (!), überhaupt in die Ausstellungsräume des Kunstmuseums passen? Hier treten die Künstlerinnen und Künstler Muda Mathis, Sus Zwick und Hipp Mathis auf den Plan, die bekanntlich reichhaltig Erfahrung mit Video- und Performance-Kunst mitbringen. Was heute – übrigens nach einer ersten Station im Kunsthaus Baselland – zu sehen ist, ist ein dreiteiliges Projekt, das sich auf unterschiedliche Weisen dem Leben Germaine Winterbergs nähert, wobei Videos als Medium je unterschiedlicher Erzählstrukturen dienen. Anstoss zum Projekt gab dabei Maria Anna Mathis, die mit Germaine Winterberg seit langem befeundet ist und viele Gespräche mit ihr am Küchentisch führte. Eines Tages war klar, dass der reiche Erinnerungsschatz in eine Form gebracht werden sollte – wobei Germaine Winterberg nie Tagebuch geführt hatte.

Zunächst war es dann der Dokumentarfilmer (und studierte Ethnologe) Hipp Mathis, der sich daran machte, dieses ungewöhnliche Leben chronologisch festzuhalten. Zu den Erzählungen der Protagonistin gesellten sich Fotografien und Tondokumente. Auf 25 Minuten ist dieser dokumentarische Zugang angelegt, der in Ittingen auch präsentiert wird. Wie bei den weiteren Videos erzählt Germaine Winterberg spontan und unverfälscht in Baseldeutsch.

Lauter Episoden aus dem Leben von Germaine Winterberg. Man setze sich in einen Sessel, höre und sehe. Bild: Brigitte Elsner-Heller

Es muss doch mehr als alles geben

Bei aller Würdigung dieses dokumentarischen Zugangs war Muda Mathis und Sus Zwick bald klar, dass dieser Rahmen allein nicht ausreichend war, um all die Erzählungen dieses bewegten Lebens, um die Ausstrahlung auch der Erzählerin selbst, angemessen Geltung zu verschaffen. Daher entwickelte sich das Projekt „L'univers de Germaine“ weiter zu einem netzartigen Geflecht. Über zwei Jahre hinweg, in mehr als 20 Aufnahmesessions, erzählte Germaine Winterberg in Episoden über ihr Leben, erinnerte sich an Kindheit, Partnerschaft, spirituelle Suchen und Begegnungen auf ihren Reisen, wobei erstaunt, dass sie auch ein Tonbandgerät mit sich führte, um Musik und Klänge festzuhalten. Und daher stammt vieles, was vom Künstlertrio Muda Mathis, Sus Zwick und Hipp Mathis mit verwoben wurde, aus dem Privatarchiv von Germaine und Sigi Winterberg. Auf der Galerie des Ausstellungsraums sind fünf Stunden aus dem Videodokument zu hören und zu sehen.

«Energie und Kraft habe ich in Hülle und Fülle gehabt.»

Germaine Winterberg über ihr Leben

Der dritte Zugriff auf ein Leben, eine offene Lebensform, erfolgt gemeinsam mit den Performerinnen Maria Anna Mathis und Fränzi Madörin. Ohne vorher auf die Rolle als Performerin vorbereitet zu sein, zeigt sich Germaine Winterberg als Frau, die auch in höherem Alter noch eine grosse Selbstverständlichkeit im Umgang mit Körper und Bewegung zeigt. Audioaufnahmen aus Indien und dem Maghreb sowie Wolken exotischer Stoffe umfangen die Arbeit und binden Sie an die Reisen Germaine Winterbergs an.

„Energie und Kraft habe ich in Hülle und Fülle gehabt“, erzählt Germaine Winterberg bei der Vorstellung der Ausstellung. Auch die Arbeit am Projekt hat sie nicht belastet, sondern inspiriert: „Es war überraschend, aber erstaunlich leicht“. Auf die Frage, ob sie je etwas bereut habe, antwortet sie: Nur, dass sie nicht Englisch gelernt habe. Wobei sie sich auf das Lesen von Büchern bezieht. Denn ihr „Strassen-Englisch“, das sie auf ihren Reisen begleitet habe, sei für die Kommunikation durchaus von Vorteil gewesen. Eine Verbindung quasi auf Augenhöhe.

Germaine Winterberg, Videostill, 2017, „L' univers de Germaine“. Bild: Muda Mathis, Sus Zwick

Aktuell als Hörbuchedition erschienen

Wer möchte, kann sich in Ittingen demnach einige Stunden mit Germaine Winterberg „unterhalten“ – und dabei vielleicht auch über das eigene Leben nachsinnen. Daneben ist soeben eine Edition erschienen, die alle Videos und Audios versammelt, insgesamt 17 Stunden Audioepisoden sowie 5 Stunden Videoepisoden, dazu das dokumentarische Porträt und das Video der Performance (CHF 29.- im Museumsshop). Auch eine persönliche Begegnung wird noch möglich sein: Am 12. August 2019 wird Germaine Winterberg in die Kartause Ittingen kommen und mit Museumsdirektor Markus Landert über die Ausstellung sprechen.
 
Termine: „L'univers de Germaine. Muda Mathis, Sus Zwick, Hipp Mathis“. 19. Mai 2019 – 8. März 2020, Kunstmuseum Thurgau. Das Museum im Internet: www.kunstmuseum.tg.ch 

Als Saaltext herausgegriffenes Statement Germaine Winterbergs, das die Offenheit der Reisenden widerspiegelt. Bild: Brigitte Elsner-Heller

 

Germaine Winterberg (mit Tonband), Marokko 1964. Bild: Archiv Sigi und Germaine Winterberg

 

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