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von Brigitta Hochuli, 07.09.2014

Lotterie trifft auf Seelennester

Lotterie trifft auf Seelennester
Die Weinfelder Künstlerin Renate Flury nennt ihre Skulpturen "Seelennester" und auch „Nichtsumärmel“. | © Caroline Minjolle

Der Jahresbericht 2013 der Kulturstiftung des Kantons Thurgau reflektiert einerseits, warum deren Arbeit keine Lotterie ist und sein darf, andererseits kontrastiert er sie mit den wunderbaren „Seelennestern“ von Renate Flury.

Brigitta Hochuli

Zuerst ein Paar Zahlen:

● Die Kulturstiftung erhielt im Jahr 2013 1,1 Millionen Franken aus dem kantonalen Lotteriefonds. Damit finanzierte sie Projekte und den Betrieb. Für total 67 Kulturprojekte hat sie insgesamt 783‘500 Franken ausgegeben.

● Aus dem einstigen Vierjahresbericht ist bekanntlich ein Einjahresbericht geworden. Während früher vieles über lange Zeit verborgen blieb, kann man sich heute aktuell über die neu unterstützten künstlerischen Initiativen informieren. Und doch gibt es auch hier neben Bekanntem Überraschungen. Wer mehr wissen möchte, findet auf der Homepage der Stiftung zusätzliche Angaben. Etwa zum „Mord am Popocatepetl“, den die Stiftung mit 8000 Franken mitfinanziert hat, oder zu einem Wagnerprojekt des Duos Flisch und Theiler, für das es 2800 Franken gab.

Radikal autonom

Nicht nur Künstler und Konsumenten debattieren gerne die Vergabepraxis von Stiftungen oder Ämtern. Im Jahresbericht der Kulturstiftung machen sich auch zwei Insider und ein externer Professor in höchst unterschiedlciher Weise Gedanken zum Thema. „Von wegen Lotterie!“, meint Stifungspräsidentin Claudia Rüegg und versichert, dass es möglich sei, gute Entscheidungen zu treffen, auch wenn der Weg dahin manchmal eine Gratwanderung sei. Schriftsteller und Stiftungsratsmitglied Peter Höner sinniert über die „Zusatzzahl“ und beschreibt einigermassen lustig Vorgang und Prokrastinationsversuche einer Literatur-Jurierung. Seine Schlussfolgerung: „Mit einer Lotterie hat die Arbeit [auch bei der Kulturstiftung] nichts zu tun, auch wenn wir wissen, dass die Gelder aus dem Lotteriefonds stammen.“

Nils Röller, Philosoph und Professor für Medien- und Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule für Künste, macht es dem Leser relativ schwer. Unter dem Titel „Danke“ beleuchtet er ausgehend vom alttestamentarischen Verhältnis zwischen Gast und Gastgeber die philosophische, ethische und ästhetische Herausforderung, welche Unterstützungsanträge und Gesuchsbewilligungen mit sich brächten, weil dabei sowohl das demokratische Verständnis, wie auch die Struktur der Stiftung oder die Kultur geprüft würden. Nach Exkursen zu Derrida oder Dieter Roth stellt Röller im Zusammenhang mit der Kulturförderung der Stiftung fest, dass der Prozess der Antragstellung und des Empfangens von Anträgen ein Systemwechsel sei, „der mit der Programmierung einer Maschine vergleichbar ist“. Allerdings gelte es auch Spielräume für die Entwicklung zeitgenössischer Kulturen zu schaffen, und das sei dann kein ausschliesslich numerischer Wert mehr, sondern ein „radikal autonomer“. So getroffene Entscheidungen seien für eine Kultur produktiv, weil sie am Wert der Selbstbestimmung für die Offenheit orientiert seien.

Radikal umgedeutet

Im Kontrast zu den stiftungsethischen Bemühungen und Erklärungsversuchen steht die Bebilderung des Jahresberichts. Stiftungsmitarbeiterin Caroline Minjolle hat eine Skulptur der Weinfelder Künstlerin Renate Flury aus verschiedenen Blickwinkeln und in jeweils neuen Lichtverhältnissen fotografiert. Auf dem halbtransparenten Papier des Berichts wirken die Bilder so geheimnisvoll wie beunruhigend. Ihre Skulpturen nennt sie „Nichtsumärmel“ und „Seelennester“. „Ich schaffe Leere, indem ich einen handgeformten Klumpen Lehm aus einem ihn umhüllenden löchrigen Gipsmantel herausklaube und so der Leere Raum gebe.“

Mit ihrer Vorgehensweise verfolge Renate Flury eine radikale Umdeutung des Skulpturalen, erklärt Markus Landert, Direktor des Kunstmuseums Thurgau, in einem verdienstvoll unprätentiösen Text. Denn bei Flurys Gipsobjekten sei das normalierweise formgebende Material verschwunden. Das stelle einige Anforderungen an die Vorstellungskraft des Publikums: „Nur wer sich das Leere als Material vorstellen kann und nur wer einen Raum als Objekt zu sehen bereit ist, erkennt die ganze Ausruckskraft der Skulpturen. Dann, so Landert, und mit Flurys poetischen Umschreibungen im Kopf, „erweisen sich die Leerformen als Potentiale, in denen sich das ganze Leben, die ganze Existenz verfangen kann“.

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Jahresbericht 2013, Konzept und Gestaltung Kaspar Mühlemann, Fotografie Caroline Minjolle, Hrsg. Kulturstiftung des Kantons Thurgau

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Proträt Renate Flury von Kathrin Zellweger: Leidenschaft unter besonderen Umständen

 

Facetten des leichter Werdens

Den Auftrag, Projekte und Initiativen zu unterstützen, die sich um neue Formen und Inhalte bemühen, gibt sich die Kulturstiftung bei der Herausgabe der Reihe Facetten auch selbst. Formal überrascht der 15. Band „Arthur Schneiter - leichter werden“ mit zwei eingelegten Kartensets mit tiefgründigen Fotografien von Guido Baselgia - eine zur Wirkstätte Arthur Schneiters in Schönenberg, eine zu seinem Wirken und Wirkkreis, jeweils einzeln abtrennbar und für viele (neue) Zwecke verwendbar.

 

Inhaltlich begnügt sich die Ausgabe mit einer Kurzbiografie des Thurgauer Kulturpreisträgers 2006, bietet dafür unter dem Titel „Festgehaltene Steinjahre“ eine ausführliche Auseinandersetzung des Philosophen, Kunstpädagogen und Künstlers Gert Gchwendtner mit dem Bildhauer, Zeichner, Fotografen und Musikerzeuger Schneiter. Dieser führe die Hand parallel zur Natur, schreibt Gchwendtner, „um persönliche philosophische Überlegugen in einer wortlosen, materialgebundenen Sprache auszudrücken“. Deshalb handle es sich hier um einen Naturalismus. In Schneiters Skulpturen und Klangsteinen würden differenzierte und sensible Handlungsmuster aufgezeigt ohne dass ein„darwinistischen Durchsetzungswillen oder alttestamentarisches Untertanmachen“ am Werk sei. Da der Künstler mit beiden Händen tief in die Struktur und Charakteristik jedes einzelnen Gesteins greife, handle es sich zudem um „eine Art von unromantischem und kitsch-freiem Naturalismus“, der uns zu einem überlegten und konsequenz-bedenkenden Umgang mit Natur provoziere. (ho)

 

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Erschienen ist Facetten 15 bei Benteli; Bild: Titelbild Facetten 15 der Kulturstiftung des Kantons Thurgau ©Guido Baselgia

 

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Gedankengänge durch Stein“, Tagblatt/TZ

www.kulturstiftung.ch

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