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von Brigitta Hochuli, 15.12.2010

„Der Historische Verein hilft Identität stiften - die Thurgauer und Thurgauerinnen suchen sie“

„Der Historische Verein hilft Identität stiften - die Thurgauer und Thurgauerinnen suchen sie“
Noch in den 1930er Jahren war die Feldarbeit mit Strom eine unverwirklichte Vision. Diese Darstellung zeigt eine Idee von 1936. Bild aus dem Buch „Hofart“, hrsg. v. Historischen Verein des Kantons Thurgau (thurgaukultur.ch/ho) | © Aus dem Buch „Hofart“, hrsg. v. Historischen Verein des Kantons Thurgau (thurgaukultur.ch/ho)

André Salathé, Thurgauer Staatsarchivar und Präsident des Historischen Vereins des Kantons Thurgau, hat eine lange Wunschliste für Publikationen zur Thurgauer Geschichte und zu Orten wie Zihlschlacht, Erlen und Ermatingen. Jetzt ist aber im Vereinsverlag erst mal ein Buch über das Leben und Arbeiten auf den Landwirtschaftsbetrieben Bleihof, Wittershausen und Schloss Gündelhart erschienen. Im Übrigen freut sich Salathé über den Fortbestand und den Mitgliederzuwachs seines Vereins.

Interview: Brigitta Hochuli

Herr Salathé, mit dem Band „Hofbetrieb“ beschenken Sie Ihre Mitglieder mit einer ungewöhnlichen Weihnachtsgabe. Wie sieht es bei Ihnen privat aus? Haben Sie Ihre Geschenke schon eingekauft? Oder erledigen Sie das jeweils in letzter Minute?

André Salathé: Salathé und Weihnachten, diese Frage hat gerade noch gefehlt! Es bleibt einem offenbar nichts erspart im Leben. Nun denn: Ich „erledige“ im Hinblick auf Weihnachten meist gar nichts, sondern werde eher erledigt.

Nun im Ernst: Sie haben die Geschichten zu den drei Thurgauer Höfen Bleihof, Wittershausen und Schloss Gündelhart gemäss Vorwort als Typoskripte in der Präsenzbibliothek des Staatsarchivs gefunden. Wie muss man sich das vorstellen? Liegen dort noch mehr solche Perlen herum?

Salathé: Leider nein. Man muss sich vorstellen, dass die Bibliothek des Staatsarchivs bis vor noch nicht allzu langer Zeit ein wilder Haufen nicht inventarisierter Bücher und Typoskripte war. Das haben wir nun geändert. Dabei kamen ein paar nicht veröffentlichte, seriös gearbeitete Texte zum Vorschein. Die besten drei haben wir nun publiziert.

Haben Sie eigentlich eine Wunschliste, was Publikationen des Staatsarchivs angeht?

Salathé: Über die Thurgauer Geschichte wurde und wird relativ wenig geforscht; wir sind ein Nicht-Universitätskanton. Meine Wunschliste ist dementsprechend lang. Es wären ein paar Orte zu untersuchen, zum Beispiel Zihlschlacht, Erlen, Ermatingen. Oder einige Biographien neu zu schreiben, etwa die über Thomas Bornhauser. Und dann gibt es etliche Zeitabschnitte, die unterbelichtet sind: das 17. Jahrhundert zum Beispiel oder die Zeit von 1869 bis 1914 oder die letzten fünfzig Jahre. Von unendlich vielen Themen abgesehen: Was hat ein Landvogt wirklich verdient? Und ähnliches.

In der Einleitung zum neuen Band „Hofbetrieb“ wird die wissenschaftliche Bedeutung der Aufarbeitung der Hof- und Betriebsgeschichte hervorgehoben. Sie selber schreiben im Vorwort von vielen praktischen Anregungen. Glauben Sie, dass auch ein Thurgauer Bauer dieses Buch lesen wird?

Salathé: Das glaube ich nicht nur, sondern ich weiss es bereits. Wir haben im „Thurgauer Bauer“ das Buch vorgestellt, und es gingen sofort einige Bestellungen ein. Unser – kleiner gewordener – Bauernstand hat immer gelesen und liest immer noch.

Hofchroniken wurden von der Politik zum Beispiel zur Zeit der Geistigen Landesverteidigung als Form der kulturellen Integration instrumentalisiert, wie Peter Moser und Juri Auderset schreiben. Sie betonen deshalb, wie wichtig die Archivierung der Quellen sei. Der Thurgauische Bauernverband und das Staatsarchiv haben nicht zuletzt deshalb vor zwei Jahren das Projekt Thurgauer Agrararchive gestartet. Wie weit ist das Projekt heute fortgeschritten?

Salathé: Es sind ein paar Bestände zusammengekommen, aber es dürfte besser aussehen. Leider scheinen viele Dokumente vernichtet zu sein. Das gilt aber nicht nur für die Landwirtschaft, sondern für die Wirtschaft generell. Da herrscht in der Schweiz ein Notstand. Vom Staat verlangt man, dass er sein Tun dokumentiert (was ich richtig finde), die Wirtschaft, die unser Leben jedoch fast mehr prägt, hat solche Pflichten nicht. Da geht sehr, sehr viel Kulturgut verloren!

„Hofbetrieb“ publizierte der Historische Verein gemäss Website schon 2007, gebunden liegt dieser (vorletzte) 144. Band aber erst jetzt vor. Wie kommt das?

Salathé: Die Autoren mussten noch gewisse Quellen besser nachweisen und brauchten dafür Zeit. Als sie damit fertig waren, gab es einen überlasteten Staatsarchivar, der die Typoskripte nicht schnell genug durchsehen konnte und schliesslich ging die Redaktorin noch in den Mutterschaftsurlaub.

Insgesamt 145 Bände sind im Verlag des Historischen Vereins seit 1861 erschienen. Gibt es so etwas wie einen narrativen roten Faden über alle Publikationen hinweg? Oder wurde nach Lust und Laune manchmal einfach das gerade Naheliegende gedruckt?

Salathé: In einem Nicht-Universitätskanton streckt man sich in Sachen Forschung oft nach der Decke. Der rote Faden durch alle Bände hindurch ist der Anspruch, wissenschaftlich zu sein, jedoch allgemeinverständlich zu bleiben. Im Übrigen sieht man Forschungskonjunkturen: mal dies, mal das. Wie das so ist: Jede Generation interessiert sich für anderes und sieht die Geschichte neu.

Sie drucken seit 2009 bei dfmedia, zu der die Huber Print AG gehört. Wie haben sich die Verlagsbeziehungen des Historischen Vereins (und des Staatsarchivs) bis heute entwickelt? Und was bedeutet es für Sie, dass der Huber Verlag nun auch örtlich nach Zürich verschwindet?

Salathé: Achtung: Der Historische Verein ist immer selber Verleger gewesen! Seine Bücher erschienen nie in anderen Verlagen. Es handelte sich immer nur um Druckaufträge an die entsprechenden Häuser! Dass die Firma Huber zerschlagen wurde, ist ein anderes, trauriges Kapitel. Schön, dass es wenigstens den Historischen Verein noch gibt.

Der 144. Band wurde vom Kanton Thurgau und Peter Schüepp von der Fundamag Weingarten finanziell unterstützt. In welcher Höhe von wie hohen Gesamtkosten? Wie finanzieren Sie ansonsten Ihre Publikationen?

Salathé: Redaktion und Produktion eines solchen Buchs kosten, je nach Ausstattung, zwischen 40'000 und 60'000 Franken, wobei die Autoren nicht einmal ein Honorar beziehen. Der Kanton Thurgau unterstützt den Historischen Verein, der, wie ich meine, seit 1859 eine ausserordentliche Leistung hinlegt, mit jährlich 30'000 Franken; damit können wir eine professionelle Redaktion und die Drucklegung garantieren. Der ganze Rest wird vom Verein getragen.

Gegründet wurde der Verein1859. Er hat heute rund 700 Mitglieder. Laut Aktuar Thomas Wunderlin fehlt der Nachwuchs. Sind Sie diesbezüglich zuversichtlich oder einfach nicht mehr auf der Höhe der Zeit? Und wie steht es eigentlich um die Stiftung für Geisteswissenschaften, die Sie angeregt haben?

Salathé: Ich denke, der Historische Verein wird überleben. Er hatte in seiner Geschichte noch nie so viele Mitglieder wie heute. Ich gebe zu: das Durchschnittsalter ist etwas hoch. Aber 2009 traten 30 Personen neu bei, 2010 waren es 70. Ich habe Thomas Wunderlin inzwischen gezeigt, wie man Mitglieder wirbt; das tut er jetzt ziemlich erfolgreich. Der Historische Verein hilft Identität stiften. Die Thurgauerinnen und Thurgauer suchen sie. Ich sage das aus tiefer Überzeugung. Wenn es weiterhin einen eigengeprägten Thurgau geben soll, sind Vereine wie der Historische Verein entscheidend.

Und die Stiftung für Geisteswissenschaften?

Salathé: Keine Ahnung. Offenbar haben wir in Watte gesprochen. Oder doch nicht? Wir beobachten...

Herr Salathé, blicken wir also voraus. Bald ist Weihnachten. Was gefällt Ihnen als Historiker, Archivar oder Privatmann am Weihnachtsfest am besten?

Salahé: Als Historiker fasziniert mich die Kulturgeschichte von Weihnachten. Ich habe jahrelang alte Christbaumkugeln gesammelt, bis mir der Baum einmal umstürzte... Der Archivar ist jedes Jahr wieder von neuem darüber verwundert, wie die Lesesaalfrequenzen vor Weihnachten ansteigen. Als Zeitgenosse ergötze ich mich vor allem an den erwachsenen Männern, die in ihren Gärten Schlitten ziehende, beleuchtete Hirschlein und Rehlein aufstellen. Aber der Privatmann? – Oh je!

**********

André Salathé, Nathalie Kolb Beck (Hrsg.): Hofbetrieb. Leben und Arbeiten auf den Thurgauer Landwirtschaftsbetrieben Bleihof, Wittershausen und Schloss Gündelhart im Wandel der Zeit, Frauenfeld 2010. ISBN 978-3-9522896-4-7

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