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von Brigitta Hochuli, 05.12.2010

Der Tanz erobert den Thurgau

Der Tanz erobert den Thurgau
Die Produktionsgemeinschaft Halsundbeinbruch zeigt Bewegungsformen verschiedener Tierarten. | © pd

Seit 1987 zeige man Tanz, sagte Phönix-Theaterleiter Philippe Wacker an der letzten Aufführung von Tanzplan.ost am Samstag in Steckborn. Klein wie ein Nastuch sei damals die Kellerbühne im „Kehlhof“ gewesen. Vor sieben Jahren entwickelte sich dann die Reihe Tanz am Untersee zum Festival theater:now, das von der Kulturstiftung des Kantons Thurgau unterstützt wird. Dieses Jahr war erstmals auch Tanzplan.ost zu Gast. Wir von thurgaukultur.ch haben aus beiden Angeboten Aufführungen gesehen - es hat uns gefallen, wir waren irritiert und tragen die Bilder noch in uns. „Es war spannend und faszinierend“, sagt Philippe Wacker im Interview.

Brigitta Hochuli

Herr Wacker, vom Oktober bis Anfang Dezember waren im Phönix nicht weniger als zehn verschiedene Tanzgruppen an ebenfalls zehn Daten zu sehen. Ist das nicht enorm viel und etwas exotisch für einen Standort im Thurgau?

Philippe Wacker: Die meisten Gruppen zeigen ihre Produktionen an zwei kurz aufeinanderfolgenden Abenden. Das reduziert die Anzahl der Gruppen erheblich. Einzig im Tanzplan.ost oder in anderen Jahren anlässlich der Vorstellungen im Rahmen des „Tanzfaktor“ sind pro Abend mehrere Compagnies zu sehen. Der Tanz ist eine aussergewöhnliche und schillernde Kunstform.

Aber keine Kunst für jedermann.

Philippe Wacker: Leider gibt es etliche, die sagen, dass sie mit zeitgenössischem Tanz wenig anfangen können. Oft haben diese Personen keine klare Vorstellung von dem, was auf der Bühne passiert und hegen diffuse Bilder über den Tanz, die sie ansatzweise aus dem hochabstrahierenden klassischen Ballet oder sonst wo aufgeschnappt haben. Das ist schade.

Wie wäre Abhilfe zu schaffen?

Philippe Wacker: Wenn dem Tanz eine Plattform gegeben werden soll, dann reichen sporadische Vorstellungen nicht. Nur über die Kontinuiät können die Menschen erreicht werden.

Modernes Tanztheater ist trotzdem oft schwierig zu verstehen, entsprechend spezialisiert erscheint mir das Publikum. Wie würden Sie es charakterisieren und woher kommt es?

Philippe Wacker: Moderne Malerei, moderne Musik, modernes Theater – immer wieder lese und höre ich, dass das alles schwierig sei. Ich glaube vielmehr, dass viele den Schritt nicht wagen und sich hinter dem Label schwierig verschanzen. Vielleicht weil der Lustgewinn nicht garantiert ist? Unser Publikum setzt sich zum Teil aus Tanzbegeisterten zusammen, die auch einem Tanzfestival ins Ausland nachreisen. Dabei sind aber nicht wenige Menschen aus der Gegend, die sich von dieser Kunstform verführen lassen wollen. Nicht wenige kommen immer wieder.

An zwei von uns besuchten Vorführungen war das Theater zu höchstens einem Drittel besucht. Macht Ihnen das Sorgen? Verstehen Sie es?

Philippe Wacker: Dieses Jahr waren ein Teil der Vorstellungen weniger gut besucht als auch schon. Woran das liegt, weiss ich nicht. Sorgen bereitet mir das mit Blick auf unsere Zuschauerstatistik. Da müssen wir bestimmte Vorgaben erfüllen. Dass aber eine Vorstellung in der Zuschauergunst durchfällt, das kann wirklich passieren. Die Vorstellung „Exotic Dreams“, die im Rahmen von Tanzplan.ost in Steckborn begeistert beklatscht wurde, ist am Vortag andernorts durchgefallen. Das soll mal einer verstehen.

Tanzplan.ost ist neu und war bei Ihnen naturgemäss erstmals zu Gast. Hat diese vom Kanton unterstützte grenzüberschreitende Tournee Ihre Erwartungen erfüllt?

Philippe Wacker: Ja, zum grossen Teil schon. Besonders spannend war das Choreographieprojekt mit dem Westschweizer Choreographen Philippe Saire und mit Tänzerinnen und Tänzern aus der Ostschweiz.

Neben Tanzplan.ost zeigten Sie wie seit sechs Jahren gewohnt Tanz unter dem Titel theater:now. Diese Reihe wird von der Kulturstiftung unterstützt. Mit welcher Begründung? Der Thurgau selbst hat ja keine eigene moderne Tanzszene.

Philippe Wacker: In der Tanzszene arbeiten etliche Tänzerinnen und Tänzer aus der Ostschweiz, die die Region aber verlassen haben, weil hier leider nur sehr wenige Arbeitsmöglichkeiten gegeben sind. Weiter ist der Tanz eine aufsteigende Kunstform, die international mehr und mehr Beachtung findet. Warum also nicht auch hier im Thurgau vermehrt Tanz zeigen und so den Boden für ein fruchtbares Arbeiten bereiten? Zudem werden Schulen über vergünstigte Besuchsmöglichkeiten und Workshops eingebunden. Die Kulturerziehung ist der Schlüssel für eine vielfältige Zukunft der Kulturarbeit.

Herr Wacker, was gefällt Ihnen persönlich am modernen Tanz?

Philippe Wacker: Der Tanz ist schillernd, farbig, überraschend und emotional. Das sind doch Ingredienzien, die es für einen spannenden Kulturabend braucht, nicht wahr? Zudem interessiert mich auch die Möglichkeit, sich weitgehend ohne Sprache und nur mit dem Körper zu einem bestimmten Thema auszudrücken.

Wie würden Sie jemanden davon überzeugen, dass er unbedingt das Manifest für den Tanz in der Schweiz unterschreiben sollte?

Philippe Wacker: Ein Aspekt ist die Kulturerziehung. Das Manifest möchte, dass junge Menschen zum Tanz finden. Das ist doch eine gute Sache oder? Das könnte ja auch bedeuten, dass sich mehr nicht nur junge Menschen bewegen? Zudem, kann es sein, dass Tänzerinnen und Tänzer eine mehrjährige Ausbildung absolvieren, einen Beruf ausüben, der dem Spitzensport nicht unähnlich ist und trotzdem oft keine existenzsichernde Löhne bekommen?

Die Spielsaison des Phönix ist nun vorbei - wie war sie in einem ersten persönlichen Rückblick auch auf die Theateraufführungen? Was wird Ihnen in besonderer Erinnerung bleiben?

Philippe Wacker: Sicher die Uraufführung von „Grönland“ mit Hanna Scheuring. Eine beeindruckende Schauspielerin. Dann die Cie Drift mit ihren selbstgebauten, völlig irren Musikmaschinen. Eugenie Rébetez, die wunderbare Tänzerin aus dem Jura mit ihrem Stück „Gina“, nicht zu vergessen Perrine Valli mit „Je pense comme un fille enlève sa robe“ und klar, zum Schluss der Tanzplan.ost. Sie sehen, ich kann mich nicht entscheiden...

Und welches sind die Höhepunkte des nächsten Jahres? Verraten Sie uns schon dies und das? Welche Daten müssen wir uns unbedingt vormerken?

Philippe Wacker: Das mache ich gerne. Hier eine erste Vorschau: Wer die Sängerin La Lupa mag, wird am 12. Februar ihr neues Konzert „Mater“ besuchen können. Besonders empfehlen möchte ich ZAL – eine Hommage an Frédéric Chopin- am 23. und 25. März, ein Klavierabend zusammen mit einer Tänzerin, am Piano André Desponds. Unbedingt anschauen. Dann wird der bekannte Schauspieler Daniel Rohr am 9. und 16. März mit dem Beckettstück Mercier und Camier bei uns gastieren und unter der Regie von Jean Grädel wird im Mai das Stück „Spinnen“ aus der Feder der Thurgauer Schriftstellerin Sabine Wang in Steckborn zu sehen sein.

 

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Tanzplan.ost

Unter dem Dach des Vereins IG-Tanz Ostscheiz ist dieses Jahr zum erstenmal das grenzüberschreitende Festival Tanzplan.ost ausgetragen worden.

Manifest für den Tanz

12'580 Personen haben bisher das Mainfest für den Tanz in der Schweiz unterschrieben. Es konzentriert die Anliegen der Tanzschaffenden in fünf Punkten:
1. Tanz muss ein gesunder und Existenz sichernder Beruf sein
2. Tanz als Kunstform, die inspiriert, braucht volle Unterstützung
3. Tanz muss zur Erziehung von jedem Kind und Jugendlichen gehören
4. Tanz muss den künftigen Generationen ein Erbe hinterlassen
5. Tanz muss für alle zugänglich sein

 

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