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von , 20.08.2015

Schreiben, um gesund zu bleiben

Schreiben, um gesund zu bleiben
Eine Achterbahnfahrt mit mehr Tiefs als Hochs – aber stets mit viel Kraft und dem Wunsch, für die Angehörigen da zu sein. | © Zora Debrunner

Zora Debrunner begleitet seit vielen Jahren ihre demenzkranke Grossmutter. Um sich selbst nicht zu verlieren, bloggt sie über ihre Erfahrungen. Aus dem Blog ist nun ein Buch geworden.

David Nägeli

Im Herbst 2012 begann Zora Debrunner* einen Blog über ihre Oma, über sich selbst, und über die Demenz, die sich als Schatten über ihre Beziehung legte. Debrunner begleitet den Menschen, der sie in ihrer Kindheit umsorgt hat. Ein heftiger Rollenwechsel – die Ausbildung als Fachfrau Betreuung hilft da nur auf sachlicher Ebene. Das Fühlen ist etwas ganz anderes.

«Als Paulas Demenzerkrankung 2012 weiter fortschritt und ich einfach nur noch überfordert und mit meinen Kräften am Ende war, fiel es mir wieder ein: Sobald du darüber schreibst, bist du nicht mehr alleine. Und so fing ich an, über Omi Paulas Demenz zu bloggen», schreibt Debrunner in der Einleitung zu «Demenz für Anfänger». Das ist ihr Weg, Ruhe zu finden. «Ich musste schreiben, um gesund zu bleiben», sagt Debrunner im Gespräch mit thurgaukultur.ch (siehe unten).

Anekdoten und Ängste

*Zora Debrunner schreibt als Korrespondentin für thurgaukultur.ch. Sie ist auch auf Twitter zu finden. Fotos: Zora Debrunner.

Seit dem ersten Eintrag auf dem gleichnamigen Blog im Herbst 2012 hat Debrunner viel geschrieben. Über die Kindheit mit ihrer Oma, über ihren Opa, über das 175-jährige Häuschen im Toggenburg, in dem ihre Grosseltern lange lebten. Vor allem aber über ihre Oma, die Demenz und über viele Versuche, Erfolge und Misserfolge, mit der Krankheit umzugehen. Es sind intime Kurzgeschichten, die erzählen, wie viel Kraft und Liebe nötig sind, einen Menschen in der Demenz zu begleiten. Und wie viel Angst die Krankheit hervorbringen kann.

Der Blog wird gut gelesen – vor allem in Deutschland. Vergangenes Jahr folgte die Nominierung für den Grimme Online Award und danach die Nachfrage der Ullstein Buchverlage: Könnte man aus dem Blog auch ein Buch gestalten? Wenige Tage später sagt Debrunner zu. Und beginnt den Blog nochmals von vorne zu lesen, während sie weiterhin ihre Oma begleitet.

Mit Hochs, Tiefs und viel Kraft

Mitte Juli ist «Demenz für Anfänger» als Buch erschienen. Die überarbeiteten Blogeinträge sind zu Kapiteln geworden: Zwei- bis dreiseitige Anekdoten, die daran erinnern, was zu vergessen gehen droht. Das eine endet mit Tränen, das nächste mit einem kecken Spruch ihrer Grossmutter. Eine Achterbahnfahrt mit mehr Tiefs als Hochs – aber stets mit viel Kraft und dem Wunsch, für die Angehörigen da zu sein. Das Buch ist leicht zu lesen, aber schwer zu verdauen.

Buch und Blog sind eine Widmung an das Leben von Debrunners Grossmutter. Sie sind aber auch ein Versuch, über ein Thema zu sprechen, welches in unserer Gesellschaft gerne verdrängt wird. «Der Gedanke, dass der oder die Verwandte einen vergessen wird, ist das Schwierigste», sagt Debrunner. «Viele versuchen diese Realität zu verdrängen.»

Familienerinnerungen

Gegen das Vergessen und das Verdrängen anzuschreiben, ist Debrunners Mittel der Psychohygiene. Wenn sie mit Blog oder Buch andere Menschen in ihrem Umgang mit Demenz unterstützen kann, ist das für sie eine Ehre. «Ich will aber keineswegs behaupten, ich hätte die Antworten auf die vielen Fragen um Demenz», sagt sie. Denn: Schlussendlich geht es in «Demenz für Anfänger» um die Geschichte von ihrer Oma und ihr. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

 

 

«Die Leser kennen mich besser, als ich mich selbst»

Zora, «Demenz für Anfänger» ist vor gut fünf Wochen erschienen. Welche Reaktionen erhältst du auf das Buch?


Seit Blog und Buch begrüssen mich meine Bekannten ein wenig anders. Nach dem «Wie geht's dir?» folgt gleich ein «Und wie geht's deiner Omi?» Das freut mich sehr – die Geschichten haben Türen geöffnet. Und bisher verkauft sich das Buch auch ganz gut.

 

Erhältst du auch Rückmeldungen von anderen Angehörigen von demenzkrankten Menschen?


Ja, durchaus, über das Internet oder auch bei persönlichen Treffen. Jemand beginnt die Geschichte von seinen Verwandten zu erzählen und kommt vielleicht sogar den Tränen nahe. Plötzlich meint er dann: «Ich weiss gar nicht, wieso ich dir das erzähle.» Dass Menschen über Demenz zu sprechen beginnen, ist etwas vom Besten, was das Buch auslösen kann.

Wie fühlt es sich an, diese sehr intimen Geschichten von deiner Familie zu veröffentlichen?


Mir liegt es am Herzen, die Erinnerungen aufzubewahren, die vom Vergessen bedroht sind. Und häufig habe ich das Gefühl, dass Menschen, die den Blog oder das Buch gelesen haben, mich beinahe besser kennen, als ich mich selbst.

Du schreibst auch, durch das Vergessen deiner Grossmutter hast du dich im Umgang mit ihr teilweise selbst nicht mehr erkannt.


Wenn man von den eigenen Angehörigen vergessen wird, ist das auch eine Kränkung des eigenen Egos. Das ist etwas vom Schwierigsten im Umgang mit der Demenzerkrankung. Das Schreiben hat mir dabei stark geholfen und mir wieder und wieder Kraft gegeben – ich musste schreiben, um gesund zu bleiben.

Wie sehen deine nächsten Pläne aus?


Momentan stecke ich viel meiner Zeit in meinen Hauptberuf. Wir sind auch gerade dabei, einige Lesungen mit dem Buch zu planen. Am liebsten würde ich für Angehörige von demenzkranken Menschen lesen. Das schönste wäre es, wenn sich danach jemand denkt: Meine Nachbarin pflegt doch ihren Ehemann, ich habe die beiden schon lange nicht mehr gesehen. Ich gehe doch gleich mal auf einen Besuch vorbei.

Hast du deiner Oma das Buch bereits gezeigt?


Ja. Das Cover mit dem Foto stand bereits vor gut einem Jahr fest und sie kannte es bereits – auch wenn sie davon überzeugt ist, dass sie das kleine Mädchen auf dem Foto ist, und ich die erwachsene Frau. Ich vermute nicht, dass sie noch die Kraft hat, das Buch zu lesen. Aber sie hat sich sehr darüber gefreut und es in die Tasche an ihrem Rollator gesteckt. Vermutlich befindet es sich noch heute dort.

Demenz und Detektive

«Demenz für Anfänger» ist am 10. Juli beim Ullstein List Verlag als Taschenbuch erschienen. Das erste Buch von Zora Debrunner, «Lavinia Morgan – Privatdetektivin», ist im vergangenen Jahr beim Vidal Verlag erschienen. Der Roman mit zwölf Kriminalfällen war ebenfalls zuerst im Internet zu lesen.

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