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von Sascha Erni, 16.11.2015

Speed-Dating in der Legebatterie

Speed-Dating in der Legebatterie
Konzentration ist alles: Thomas Götz (rechts) im Gespräch. | © Sascha Erni

Am 14. November fand auf dem Zelglihof Ermatingen die erste Tauschbörse des Wissens, «Schaffe!», statt. Die erste? Ja, denn es ist zu hoffen, dass Klaus Hersches Netzwerk-Experiment noch viele Iterationen erleben wird.

Sascha Erni

Der Zelglihof in Ermatingen beherbergt schon länger mehr menschliche Gäste als Kühe: mit Hotelzimmern, Ferienwohnungen und einem Saal bietet er sich sowohl für Urlauber als auch Veranstaltungen an. Aber eine so vielfältige Gästeschar wie am letzten Samstag dürfte er erst selten gesehen haben: Die Kulturkommission, die Kulturstiftung und das Kulturamt des Kantons Thurgau luden unter der Federführung von Klaus Hersche 50 Experten und ebenso viele Gäste ein.

Das Ziel? Eine «Tauschbörse des Wissens» zwischen Kulturschaffenden, Geschäftsleuten, Politikern und Fachspezialisten zu bieten. Nicht elitär, sondern – wie es Cornelia Zecchinel von der Kulturkommission in der Einführung sagte – auf Augenhöhe. Es ginge um etwas sehr Thurgauisches an diesem Abend, etwas, was alle Menschen angehe: Das «Schaffe». Was dieses «Schaffe» alles ausmachen könnte, hatte zuvor ein eineinhalbstündiger Fussmarsch demonstriert.

Wetterglück: bei milden Temperaturen spazierten die Gäste oberhalb des Untersees von Tableau zu Tableau. (Bilder: Sascha Erni)

 

Ein skurriler Postenlauf

Bei angenehmen Temperaturen und trockenen Verhältnissen schritten Gäste und Experten durch Wald und Wiese. Schon bald zeigte sich, dass es nicht nur darum ging, warm zu werden, wie Hersche es eingangs nannte: Der Spaziergang führte an verschiedenen Tableaux vorbei, die Aspekte der Arbeit mal witzig, mal nachdenklich zeigten. Was macht die Arbeit, das Schaffen einer Musikerin aus? Eines Webereiarbeiters? Eines Künstlers? Diese kurzen Versatzstücke stimmten sowohl die Experten als auch die Gäste auf die folgenden Gespräche ein.

Historiker, Autor, oder Knecht? Stefan Keller spaltet Holz.

 

Schnell wurde klar: Schaffen ist mehr als nur Lohnarbeit. Denn sowohl im alltäglicheren Erwerbsleben als auch in der Kultur geschieht vieles abseits von verrechenbaren Stunden und festgelegten Honoraren. Wenn Stefan Keller den holzspaltenden Knecht gab, geschah dann nicht doch mehr als die blosse Abfolge von Holz auflegen, Beil greifen, spalten, nächstes Holzscheit?

Immerhin trug er dazu Anzug und Krawatte. Ein Geschäftsmann, der vor einer Sitzung Aggressionen abbauen muss, um zu funktionieren? War die typische Arbeit des Holzspaltens also gar nicht das eigentliche «Schaffe!» sondern genau so ein nötiger Nebenschauplatz, wie wenn eine Gesangslehrerin sich mit Yogaübungen auf ihre Lektion vorbereitet? Unterscheidet sich «gewöhnliche» Arbeit also kaum von «künstlerischem» Schaffen?

Klaus Hersche führt ins Speed-Dating ein.

 

«Es uhuere Gschnorr! Gut!»

Zurück im Hof ging es dann ans Eingemachte. Die geladenen Experten nahmen ihre Plätze ein, die Gäste zogen Namen. Wie beim so genannten «Speed-Dating» setzte man sich also zufällig zusammen, redete einen festgelegten Zeitraum lang bis zum Gong, dann wurde neu ausgelost. Klingt chaotisch, und es war auch so.

«Es uhuere Gschnorr! Gut!» meinte dann die Moderatorin Nina Mavis Brunner nach der ersten Runde und wurde mit Gelächter bestätigt. Der hohe Lärmpegel, die mit Karton abgetrennten Sitzplätze und die steigenden Saal-Temperaturen (am Ende des Abends über 30 °C) liessen Assoziationen an Legebatterien wach werden. Dennoch war es trotzdem – oder genau deswegen? – eine fast schon intime Erfahrung, mit seinen Gegenübern zu diskutieren. Und eine unterhaltsame Erfahrung noch dazu.

Intimsphäre in der Masse – das Konzept geht auf.

 

Die Situation zwang Gäste und Experten dazu, sich zu konzentrieren und gleich in medias res zu gehen: gross Smalltalk oder Vorgeplänkel war unmöglich. Handschlag, Signal, und los! Wer bist du, was machst du, wie kamst du dazu? Kuratorin und Korrektor, Psychiater und Regierungsrätin, Journalist und Illustratorin … Die Gemeinsamkeiten überwogen die Unterschiede, die Gespräche waren angeregt und dauerten oft bis in die Pausen fort.


Auch zeigte sich, dass das Organisationskomitee in der Vorrede recht behalten sollte: Zwischen «Gast» und «Experte» bestanden kaum Unterschiede. Jeder im Saal war Experte. Auf welcher Seite der langen Tische man sass, war unwichtig. Um so besser, dass nach vier Runden Speed-Dating nicht einfach Schluss war, sondern der Abend bei Fondue und Wein fortgeführt wurde. Visitenkarten wurden ausgetauscht, mögliche Projekte diskutiert und Zusammenarbeiten geprüft. Und es wurde viel gelacht.


Ein gelungener Abend also, und Klaus Hersche ist zu diesem Projekt zu gratulieren. War «Schaffe!» ohne Fehl und Tadel? Nicht jeder kam mit der hohen Lautstärke im Saal zurecht, nicht jede war gleich gut zu Fuss wie die anderen. Aber eines ist sicher: sollte die Tauschbörse weitergeführt werden, vielleicht gar zur jährlichen Institution im Thurgau werden, dann wird sich das einpendeln. Hoffen wir, dass Hersche und sein Team das auch so sehen.

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