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von Inka Grabowsky, 08.07.2016

1914/18 - der Grosse Krieg

1914/18 - der Grosse Krieg
Vier Thurgauer repräsentieren in der Ausstellung zum Ersten Weltkrieg das Schicksal der Bevölkerung. | © alle Bilder zVg

Das Historische Museum Thurgau zeigt im Alten Zeughaus in Frauenfeld noch bis am 23. Oktober eine Wanderausstellung zum Ersten Weltkrieg. Sie erklärt, „wie der Krieg die Schweiz veränderte“ - nämlich viel stärker, als man glaubt. Ein Rundgang mit Kurator Dominik Schnetzer, der die Auswirkungen auf den Thurgau erklärt.

Inka Grabowsky

„In den Erinnerungen ist der Erste Weltkrieg überlagert vom Zweiten Weltkrieg mit seinen Gräueltaten“, sagt Dominik Schnetzer, Kurator am Historischen Museum Thurgau in Frauenfeld. „Doch er hat die Schweiz viel stärker geprägt“ - und das nicht wegen der 4200 Soldaten, die in den vier Jahren durch Krankheit oder Unfälle ums Leben kamen. Mit dem Ausbruch des Krieges endete die ‚Belle Epoque’, in der Wirtschaft und Kultur aufgeblüht waren.

Plötzlich eine geschlossene Grenze

Von grosser Wirkung war die Abkehr des Staates von einer ausgesprochen liberalen Grundeinstellung. Vor dem Krieg haben täglich rund 4000 Deutsche in Konstanz die Grenze überquert, um an ihre Arbeitsplätze in den Thurgauer Industriebetrieben zu gelangen. „Am 31. Juli 1914, einen Tag vor dem Kriegseintritt des Deutschen Reichs, wurde die Grenze zwischen Konstanz und Kreuzlingen geschlossen. Die Thurgauer Landwirte konnten ihre Milch nicht länger in Deutschland auf den Markt bringen, die Deutschen nicht mehr zu ihren Arbeitsplätzen. Die Grenze rückte ins Bewusstsein der Menschen.“

Blockade und Profiteure

Das hatte weitgehende Auswirkungen. Die Schweiz importierte achtzig Prozent ihres Getreidebedarfs, war aber ab 1915, seit dem Kriegseintritt Italiens, von kriegführenden Ländern umgeben, die Handelsrouten waren blockiert. „Die Landwirte profitierten davon, denn die Preise stiegen“, erklärt der Historiker Dominik Schnetzer. Der Staat als Ganzes hatte das Nachsehen: „700‘000 Menschen in der Schweiz wurden abhängig von Unterstützung.“

Zu den Profiteuren zählten auch Betriebe, die kriegswichtige Güter herstellten - seien es Schokoladentafeln oder Lastwagen. Sie verkauften ihre Erzeugnisse an Freund und Feind. Die Produktion allerdings verlief unter schwierigen Bedingungen. Viele Männer wurden eingezogen, Frauen mussten deren Aufgaben übernehmen. Während die einfachen Leute doppelt belastet wurden, wuchs der Reichtum der Unternehmer. „Die soziale Spaltung vertiefte sich in dieser Zeit ebenso wie der Röstigraben“, sagt Schnetzer. „Die Deutschschweiz sympathisierte mit den Deutschen, die Romandie mit Frankreich.“ Der Staat reagierte auf die veränderte Situation mit einer Unzahl an neuen Verordnungen. „Statt 8000 Bundesangestellten 1914 kümmerten sich vier Jahre später 12‘000 Angestellte um die Bundesangelegenheiten.“

Eine Verordnung aus Bern jagte die nächste.

Thurgauer Bezüge

All diese Veränderungen dokumentiert die Ausstellung des Vereins „Die Schweiz im Ersten Weltkrieg“ allgemeingültig für die gesamte Eidgenossenschaft. „Der Thurgau zeigt die Veränderungen mustergültig im Kleinen und ergänzt diese um die spezielle Lage als Grenzkanton“, so der Kurator. „Wir illustrieren das, indem wir vier Lebensgeschichten von Thurgauer Persönlichkeiten zeigen, die alle auf ihre Weise vom Krieg betroffen waren.“

Auf dem Handwagen befinden sich die Gegenstände, mit denen sich das Leben der vier Persönlichkeiten buchstäblich erfassen lässt.

 

Eine der prominentesten Persönlichkeiten ist der bei Kriegsausbruch 28-jährige Max Daetwyler aus Arbon, der den Kriegsdienst verweigerte und deshalb für verrückt erklärt wurde. „Die Friedensbewegung war schweizweit aktiv. An Daetwylers Beispiel sehen wir auch die Strenge und Disziplin der Schweizer Armee, die von General Wille nach preussischem Vorbild geführt wurde.“

Landwirt Johann Jakob Lüthi aus Stettfurt wurde trotz seines Alters von 40 Jahren noch eingezogen. Gemeinsam mit seinem Pferd Acida ging er zur Kavallerie. Sein Tschako, sein Dienstbüchlein und das seines Pferdes liegen in der Ausstellung auf einem Objektwagen, einem alten Handkarren. Das Publikum darf an Führungen die Originalgegenstände der Thurgauer Persönlichkeiten in die Hand nehmen. «Dies ist ein einzigartiges und innovatives Vermittlungsangebot, die Epoche lässt sich anhand der Lebensgeschichten förmlich ertasten», betont Dominik Schnetzer.

Der Vorläufer des Stahlhelms ist eine der Attraktionen der Thurgauer Ausstellung.

 

„Eine faszinierende Frau“ sei Anna Susanna Keller-Forster aus Alterswilen gewesen, sagt Dominik Schnetzer. Sie managte nicht nur die Familie, sondern führte auch die Poststelle und ein eigenes Stoff-Geschäft. „Ausserdem war sie eine fleissige Briefschreiberin - das ist eine Fundgrube für uns Historiker.“

Max Merk aus Pfyn schliesslich war Kantonsschüler in Frauenfeld, als der Krieg ausbrach. Für ihn bedeutete das häufigen Unterrichtsausfall. „Wegen des Brennstoffmangels konnten Schulzimmer nicht geheizt werden.“

 

Das Thurgauer Rahmenprogramm, nächstens am 13. Juli

Das Historische Museum in Frauenfeld würzt die an sich schon gute Ausstellung mit einem vielfältigen Angebot im Rahmenprogramm. Eine Podiumsdiskussion, eine Filmmatinée und ein Konzert gehören dazu. (Näheres hier)

 

Die nächsten Führungen durch die Ausstellung gibt es am 13. Juli um 18 Uhr und am 23. Juli um 15 Uhr. Zum einen geht es dabei um die Frage, wie der Krieg das Leben im Thurgau veränderte, zum anderen um die Thurgauer Wirtschaft, in der es Profiteure und Verlierer gab.

 

Am 15. und 16. September kommen Experten aus der Schweiz, Österreich und Deutschland nach Frauenfeld, um miteinander und mit der interessierten Öffentlichkeit über den Weltkrieg als Unterrichtsthema oder über die Erinnerungskultur zu diskutieren. Kostenlose Anmeldungen zur Tagung bis 31.7. unter www.historisches-museum.tg.ch.

 

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der den aktuellen Forschungsstand widerspiegelt. (inka)

 

Dominik Schnetzer

Dominik Schnetzer hat an der Universität Zürich Geschichte, Musikwissenschaft und Ethnologie studiert und mit einer Arbeit zur Bilderwelt der Geistigen Landesverteidigung promoviert. Er ist stellvertretender Direktor und Kurator am Historischen Museum Thurgau. (inka)

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