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Unter Tage

Unter Tage
Gebaut zum Schutz vor dem Feind, neu genutzt als einer der spektakulärsten Kunstorte des Kantons. Ein ehemaliger Militärunterstand, mühsam in den Berg gehauen, bietet jetzt moderner Kunst eine Heimat. | © THE VIEW

Im malerischen Salenstein am Bodenseeufer sitzt die Galerie The View. Im Programm hat sie nicht nur aussergewöhnliche zeitgenössische Kunst, sondern auch die wahrscheinlich eindrücklichsten Ausstellungsräume des Kantons. Ein Besuch unter Tage.

Von Michael Lünstroth

Man könnte direkt davor stehen und würde doch nicht erkennen, was da vor einem liegt. Ein steiler Abhang eines Berges, viel Laub darüber wenn so wie jetzt Herbst ist, einige Bäume links und rechts. Was zunächst aussieht wie ein Naturschauspiel, entpuppt sich später als der Eingang zu einem der ungewöhnlichsten Ausstellungsräume des Kantons. Zumindest dann, wenn man das Glück hat mit Julia Hübner unterwegs zu sein. "Gehen Sie mal kurz zur Seite, ich muss das Tor öffnen", sagt sie noch. Dann packt die Kunstexpertin zu, stemmt ein Eisentor hoch und präsentiert einen Eingang in den Berg. Feucht, rutschig, eng. 

Es wirkt wie ein magischer Eingang. Kurz fühlt man sich wie in Peter Jacksons "Herr der Ringe", da steigen die Figuren ja auch regelmässig in irgendwelche Bergmassive ein. Die groben zerfurchten Wände zeugen von der Kraftanstrengung, die es brauchte, um dem Berg dieses Refugium abzutrotzen. Genau als das, war dieser Ort mal konzipiert worden. Ein militärischer Unterstand zum Schutz vor dem Feind. Und um ihn im Zweifel von hinten angreifen zu können, wenn er die Front überquert hat. Dieser tropfsteinhöhlenartige Raum ist ein Relikt des Kalten Krieges und vielleicht auch deshalb so faszinierend. Statt gewaltsamer Auseinandersetzungen gibt es hier heute Auseinandersetzungen mit zeitgenössischer Kunst. Statt der Waffen sprechen hier heute die Ideen.

Der kleine Ort Salenstein war bislang allenfalls bekannt für seine traumhafte Lage - leicht thronend über dem Bodensee - und das Napoleonmuseum auf dem Arenenberg. Das hier aber auch eine der progressivsten Galerien des Kantons sitzt, wissen nach wie vor hauptsächlich Kunstliebhaber. Der militärische Unterstand ist nur einer von drei spektakulären Ausstellungsorten der Galerie The View. Antoinette d'Airoldi, Leiterin des Hauses, hatte vor Jahren die Idee, solch ungewöhnliche Orte für die Kunst zu erschliessen. "Ich habe darin eine grosse Chance gesehen, als wir die Möglichkeit hatten, die Räume zu mieten, haben wir sofort zugeschlagen", erklärt d'Airoldi. 

Grauer Beton, schwere Türen: Der Zivilschutzkeller in Salenstein ist auch einer der ungewöhnlichen Kunstorte der Galerie. Bild: The View, Luca Rüedi

 

Neben dem militärischen Unterstand gehören noch der Zivilschutzkeller Salenstein und ein alter Wasserspeicher aus dem Jahr 1900 zu den, wie die Galerieleiterin sie nennt, "Spaces" der Galerie. Auch diese Räume sind speziell. Der Zivilschutzkeller ist nach wie vor in Betrieb, die Hochbetten stehen exakt nebeneinander, die Schränke sind mit Werkzeugen, Eimern und sonstigen Hilfsmitteln gefüllt. Binnen kurzer Zeit könnte die Versorgung von etlichen Menschen hier gewährleistet werden, Sollte es doch noch zu einem Atomkrieg kommen, hier könnten einige Menschen wohl eine Weile überleben. 

Ein paar Dörfer weiter liegt dann der alte Berlinger Wasserspeicher. Auch dieser Ort hat mit seiner unglaublichen Akustik, den hohen Decken eine nahezu kathedrale Atmosphäre. "Uns war von Anfang an wichtig, dass wir nicht nur Kunst zeigen, sondern unseren Besuchern ein Erlebnis ermöglichen wollen", erklärt Antoinette d'Airoldi ihr Ausstellungskonzept. Gezeigt werden bei The View vor allem aktuelle Positionen, die sich mit Raum, Licht, Klang, Fotografie, Medienkunst und dem bewegten Bild auseinandersetzen. 

Für Künstler sind die Räume - inklusive des vierten Ausstellungsortes am Hauptsitz der Galerie in einer ehemaligen Schreinerei - ein grosser Reiz, aber auch eine Herausforderung. Die Orte sind so stark, so wirkmächtig, dass sich die Kunst dagegen erstmal behaupten muss. Schaut man sich die Liste der Künstler an, die sich auf diese Aufgabe eingelassen haben, dann erkennt man wie betörend die Orte auch für renommierte Künstler sind. Martin Walde, Björn Schülke, Boris Petrovsky, Martina Lauinger, Yves Netzhammer, Brigitte Kowanz, Chris Larson, Dierk Maass sind nur einige der Namen, die das Abenteuer gewagt haben. 

Wenn es nach Antoinette d'Airoldi geht, könnten in den nächsten Jahren noch weitere aussergewöhnliche Orte dazu kommen. "Wir sind da grundsätzlich offen, es muss alles aber noch händelbar bleiben", sagt die Galerieleiterin. Man darf also gespannt sein, was da noch kommt. Schon jetzt ist klar: Wer diese Kunsträume noch nicht erlebt hat, hat etwas verpasst. Nachholen möglich ab 2017. Dann startet die nächste Ausstellung bei The View.

  

Aus einem alten Wasserspeicher wurde ein Ort der Kunst: Einer der Spaces (Ausstellungsräume) der Galerie The View in Salenstein

Führung durch die Räume

Während der Ausstellungszeit - meistens von Juni bis September - bietet die Galerie Führungen zu den verschiedenen Orten an. Die genauen Öffnungszeiten für die jeweiligen Ausstellungen lassen sich hier nachlesen. Da die Räumlichkeiten (links im Bild der mehr als 100 Jahre alte Wasserspeicher) des Ausstellungshauses etwas weiter auseinander gelegen sind, bittet die Galerie ihre Besucher für eine vollständige Besichtigung mindestens eine Stunde einzuplanen. Die Räumlichkeiten sind nicht rollstuhlgängig sind. Voranmeldungen bei Gruppen ab fünf Personen sind hier möglich 071 669 19 93 oder info@the-view-ch.com Eintritt inklusive Führung kostet 18 Franken.

 

 

 

 

 

 

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