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31.08.2017

Die Lust am Absturz

Die Lust am Absturz
Nominiert für den Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis 2022: Die Schriftstellerin Andrea Gerster | © Janine Guldener

Andrea Gerster zählt zu den erfolgreichen Schriftstellern der Schweiz. In den nächsten Wochen erscheinen zwei neue Werke von ihr. Wir haben die Autorin vorab getroffen.

Von Michael Lünstroth

Es gibt sie immer noch, diese besonderen Momente im Leben der Autorin Andrea Gerster. „Wenn die Kiste mit den ersten Exemplaren eines neuen Romans kommt, dass ist das immer wieder sehr schön“, sagt die in Freidorf lebende Schriftstellerin. Demnächst kann sie gleich zwei solcher Momente erleben. Zunächst erscheint ihre Jugendgeschichte „Oda ist weg“ (dabux Verlag) und im Oktober stellt sie in St. Gallen ihren neuen Roman „Alex und Nelli“ (Lenos Verlag) vor. Wie es ihr geht so kurz vor der Veröffentlichung zweier neuer Werke? „Ich bin entspannt, meine Arbeit ist gemacht, jetzt bin ich gespannt auf die Reaktionen“, sagt die 58-Jährige. Wir treffen die gebürtige Schaffhauserin in einem Café am Romanshorner Hafen und sie wirkt in der Tat sehr mit sich im Reinen. 

Dass sie heute dort ist wo sie ist, war vor allem eines nicht - ein Selbstläufer. Die Mutter von fünf Kindern hat sich ihren Platz in der Literaturszene hart erarbeitet. Dass das Schreiben mal ihr Beruf werden könnte, kam ihr lange nicht in den Sinn. In ihrer Familie interessierte sich niemand dafür. So machte sie erst eine Ausbildung zur Pflegefachfrau, besuchte später eine Handelsschule und belegte am MAZ Luzern eine Weiterbildung in Journalismus. Als freie Journalistin und Texterin arbeitete sie fortan für Zeitungen, Zeitschriften und Auftraggeber aus der Wirtschaft. „Der Journalismus war für mich eine gute Schule des Lebens“, sagt Gerster heute. Literarische Texte hatte sie auch schon vor dem Journalismus geschrieben, damals interessierte sich nur noch niemand dafür und die Autorin war auch noch nicht bereit, damit in die Öffentlichkeit zu gehen.

Der Absturz als Chance auf einen Neubeginn

2004 erschien ihr erster Erzählband „Käfermanns Liebe“ (eFeF Verlag). Danach ging es langsam aber stetig bergauf mit der Autorinnenkarriere von Andrea Gerster. Vier Jahre nach dem literarischen Debüt folgte mit „Dazwischen Lilli“ der erste Roman. Inzwischen sind fünf Romane und drei Erzählbände von ihr erschienen. Im Herbst kommen zwei weitere dazu. Die Jugendgeschichte „Oda ist weg“ wendet sich an leseschwache Jugendliche. Darin erzählt Gerster die Geschichte des Aussenseiters Konrad und wie er mit seinem Leben fertig wird. Der neue Roman „Alex und Nelli“ ist „ein tragikomischer Roman über wankende Selbstbilder, über Kapriolen der Liebe und unerwartete Spielarten des Glücks“, schreibt der Lenos Verlag in seinen Prospekten.

Darin beschreibt Gerster erneut die Folgen eines gesellschaftlichen Absturzes: „Alexander Steiner ist erfolgreich und liebt seinen Jaguar mehr als die Menschen. Die Abwärtsspirale beginnt mit dem Suizid seines Geschäftspartners: Er verliert nach und nach alles“, erklärt die Autorin. Und: „Ich wollte eine Figur ohne jedes Unrechtsbewusstsein schaffen und diese abstürzen lassen.“ Derlei Abstürze, wenn Menschen auf sich selbst zurückgeworfen sind, das interessiert die 58-Jährige immer wieder. Warum das so ist? „Oft definiert ja die Gesellschaft, was ein Absturz ist und was nicht. Ich frage eher danach, ob so ein Absturz nicht auch eine Chance auf Neuanfang für den jeweiligen Menschen sein kann“, antwortet die Schriftstellerin.

Beim Schreiben ist sie sehr diszipliniert

Ausgangslage für alle ihre Bücher sei eine Frage, die sie sich selber stelle und dann versuche zu beantworten, gewährt die Autorin einen Blick in ihren Schaffensprozess. „Am Anfang ist immer diese eine Frage oder ein Thema, das mich interessiert. Aber direkt danach entstehen die Figuren über die ich schreiben möchte. Wenn das steht, schreibt sie los. „Ich bin keine sonderlich stringente Erzählerin, sondern hüpfe gerne hin und her und will mich auch überraschen lassen, was passiert und wohin mich der Text führt“, erklärt die 58-Jährige. Beim Schreiben selbst sei sie diszipliniert: „Literarisches Schreiben ist mein Beruf, da muss man schon konsequent sein“, findet sie.

Neben der Literatur hat sich Andrea Gerster in den vergangenen Jahren auch in anderen Feldern umgetan. In der bildenden Kunst hat sie verschieden Ausstellungen realisiert, für Theater hat sie Bühnenstücke verfasst, unter anderem für das See-Burgtheater in Kreuzlingen. Zudem ist sie verantwortlich für das Programm des Literaturhauses Liechtenstein. Die unterschiedlichen Disziplinen erlebt sie heute als bereichernd. „In den unterschiedlichen Bereichen lernt man ganz verschiedene Menschen kennen, das ist ein grosses Glück“, sagt sie. 

Das Hadern mit der eigenen Identität

Dass es in ihren Romanen auch immer wieder um die Frage „Wer bin ich eigentlich wirklich?“ geht, ist auch kein Zufall. „Mit 18 habe ich sehr darunter gelitten, dass ich ein Leben lang nur ich sein darf und keine andere Person. Das hat mich ernsthaft gestört“, sagt Andrea Gerster. Heute mache sie das nicht mehr unglücklich. Wohl auch deshalb, weil sie diese Neugier auf andere Leben und die Lust am Rollentausch nun zumindest in ihren Büchern ausleben kann. 

 

Termine: Am Sonntag, 10. September, liest Andrea Gerster im Haus Max Burkhardt in Arbon (Rebenstrasse 33). Die Jugendgeschichte „Oda ist weg“ wird am Mittwoch, 13. September, 16 Uhr, in der Kantonsbibliothek Frauenfeld vorgestellt. Der Verlag Da Bux präsentiert dort die so genannte Edition 2 der Jugendbuchreihe. Neben Erster sind auch mit dabei die Autoren Franco Supino, Alice Gabathuler und Tom Zai. Der neue Roman „Alex und Nelli“ wird am Dienstag, 24. Oktober, 19 Uhr, in St. Gallen (Hauptpost, Raum für Literatur, St. Leonardstrasse 40) präsentiert.

Video: Kurzlesung aus dem neuen Roman "Alex und Nelli"

Andrea Gerster – Alex und Nelli from Solothurner Literaturtage on Vimeo.

 

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