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von Brigitta Hochuli, 14.10.2010

"Ohne Bilder geht es nicht"

Zsuzsanna Gahse im Video für thurgaukultur.ch | © Brigitta Hochuli

Ein Gespräch mit der Autorin und Übersetzerin Zsuzsanna Gahse über die Donau, die Thur, den Thurgau und den Thurgauer Kulturpreis 2010.

Brigitta Hochuli

Frau Gahse, viele Menschen ängstigen sich seit der Giftschlammkatastrophe in Ungarn um die Donau, das „gute alte Rückgrat Europas“, wie Sie in Ihrem neuen Buch „Donauwürfel“ schreiben. Sie auch?

Zsuzsanna Gahse: Natürlich. Die Nachricht hat mir weh getan. Im Würfel Nr. 26 habe ich eine Zusammenfassung von möglichen Katastrophen erfunden und sie mit den üblichen Klischeesätzen wie „Trauer, Verzweiflung und Wut“ versehen - wie in einem Sketch.

Einmal ist im Buch vom Austrocknen der Donau und einmal von der schlechten Wasserqualität bei einer Mückeninsel die Rede, was die Störe ins Donaudelta vertreibt. Das sind also keine konkreten Fälle?

Zsuzsanna Gahse: Das Austrocknen der Donau mit der anschliessenden 2800 Kilometer langen Flutwelle, übertragen auf eine Kinoleinwand, ist Fiktion, die die Klischeesätze der Nachrichten auf den Arm nimmt. Aber das Problem mit den Stören gibt es. In Ungarn gibt es viele flache, aufgeschwemmte Mückeninseln, eine davon heisst sogar so. Bis Wien fliesst die Donau relativ schnell, sie ist klar und kieselig. Dann verschlammt sie zusehends. Das hat die Störe vertrieben.

Hätten Sie das Buch anders geschrieben, wenn die aktuelle Gefährdung schon früher bekannt gewesen wäre?

Zsuzsanna Gahse: Nein, ich hätte die Katastrophe nie so direkt beschrieben.

Video von Brigitta Hochuli:


Sie betonen im Buch, dass Flüsse weder Menschen seien noch eine Allegorie. Die Donau sei die Donau. Handkehrum verwenden Sie viele Metaphern aus der menschlichen Kultur und dem Tierreich. Sie vergleichen den Fluss mit einem Krokodil oder Tausendfüssler oder Urviech aus Wasser, mit einem Gorilla, attestieren der Donau eine private „schier ohnmächtige“ Haltung.

Zsuzsanna Gahse: Ich bin gegen Allegorien, Metaphern und Symbole. Aber man kommt da nicht raus, die Sprache entlässt einen aus solchen Vergleichen nicht. Daher heisst mein Buch über meine Mutter „Nichts ist wie“. Das bedeutet, Metaphern rutschen an der Wirklichkeit vorbei. Trotzdem kann man mit Vergleichen spielen.

Das tun Sie in Ihrem Buch mit viel Fantasie. Wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, dass die Donau im Grunde unbeschreibbar ist? Oder steht sie ganz einfach für das Leben?

Zsuzsanna Gahse: Statt Metaphern sage ich lieber Bilder. Und ohne Bilder geht es nicht. Ich beschreibe die Donau, wie ich sie sehe. Und wenn dabei mitunter etwas Weibliches durchkommt, zum Beispiel wenn der Inn in Passau in die Donau mündet, dann ist es halt so. Die Donau sieht da hingebungsvoll aus.

Die Donau ist für Sie mehr als romantische Vorlage. Geht es Ihnen auch um Grundsätzliches?

Zsuzsanna Gahse: Ich habe zwei Grundinteressen. Einerseits geht es um meine Donau, die ich liebe, andererseits um „Hazweio“, also um das Wasser schlechthin. Wasser entdecken wir heute als ein Grundanliegen. Wenn ich über Wasserqualität schreibe, muss ich mir überlegen, was für ein Schicksal die Gewässer haben. Dabei suche ich nach möglichst treffenden Bildern, und gegen Ende des Buches gibt es viele traurige Bilder. Aber nicht nur traurige.

Die Vaterfigur im Buch bezeichnet die Donau als Ausnahmefall, weil sie der einzige europäische Strom sei, der nach Osten fliesse. Alle anderen grossen Flüsse flössen in die Gegenrichtung und vermittelten womöglich das Grundgefühl, die westliche Richtung sei einzig richtig. Sie selber haben sich ebenfalls nach Westen bewegt. Was empfinden Sie als richtig?

Zsuzsanna Gahse: Für mich persönlich gibt es weder richtig noch unrichtig. Es ist ein Zufall, dass die Donau nach Osten fliesst, und es ist bemerkenswert, dass alle Menschen in Richtung Westen drängen. Aber ich beobachte nur, dass es so ist. Auch mich hat es in den Westen verschlagen.

Sie haben die ersten zehn Kindheistjahre in Budapest mit Blick auf die Donau verbracht, bevor die Familie 1956 aus Ungarn fliehen musste. Seit über zehn Jahren wohnen Sie nun im thurgauischen Müllheim. In der Nähe dieser „absoluten Menschenlandschaft“, wie Sie sie nennen, fliesst die Thur. Könnten sie als „Wassermensch“ auch Thurwürfel schreiben?

Zsuzsanna Gahse: Das würde ich der Thur nicht antun, weil die Würfel jetzt der Donau gehören. Aber ich könnte lange über die Thur schreiben, werde das auch noch tun und habe es im Buch „durch und durch“ (2004), das von Müllheim handelt, bereits getan. Diese „Menschenlandschaft“ ist sehr interessant. (Vrgl. das Hörbeispiel im Film.)

Was bedeutet Ihnen die Thur? Wie gut kennen Sie sie? Und wie würden Sie den Thurgau beschreiben? Werden Sie hier bleiben?

Zsuzsanna Gahse: Das hoffe ich. Ich bin inzwischen übrigens auch Schweizerin. An der Thur gehe ich oft spazieren, sie hat den breitesten Unterfluss aller Flüsse in Europa. Der Name der Thur kommt von thuri und heisst, dass ein Fluss aus dem Boden hinausdrückt, ein uraltes Wort!

Was, glauben Sie, hat den Ausschlag gegeben, dass sie den Thurgauer Kulturpreis bekommen? Ihre dreijährige Intendanz im Bodmanhaus? Ihr Buch über Müllheim?

Zsuzsanna Gahse: Ich weiss nicht, wofür genau. Ich nehme an, halt für mein gesamtes Schreiben.

Ihr Mann Christoph Rütimann ist einer der renommiertesten Ostschweizer Installations-, Video- und Foto-Künstler. Sie sagen über sich selbst: „Ich gehe gerne vom Sehen aus.“ Beeinflussen Sie sich gegenseitig?

Zsuzsanna Gahse: Beeinflussen würde ich das nicht nennen. Es ist allerdings wunderbar, sich gegenseitig anzuregen, manchmal sogar unbemerkt. Beispielsweise auch bei formalen Fragen.

Ihre „Donauwürfel“ haben ein streng durchgezogenes Format: 10 Silben x 10 Zeilen x 10 Quadrate - und dies 27 Mal. Engt das nicht ein? Und warum gerade 27 Teile? Man würde gerne mehr lesen.

Zsuzsanna Gahse: Mit den 27 Würfeln ist die Sache rund, dachte ich, als ich so weit war. Es hätten auch 29 sein können. Die ungerade Zahl war mir wichtig.

Sie schreiben deutsch, übersetzen aus dem Ungarischen. Wie begegnen sich in ihrem Denken die beiden Sprachen? Wieviel Ungarisch fliesst in Ihr Deutsch?

Zsuzsanna Gahse: Es gibt Bilder aus dem Ungarischen, die auf Deutsch leider nicht existieren. Das „fuxt“ mich. Aber ich denke deutsch und finde, diese Sprache wird nicht mehr genügend verteidigt. In Ungarn und Tschechien sprachen die Gebildeten früher alle Deutsch, heute hört man nur noch Englisch. Sonst im Ausland studieren auch nicht mehr viele Deutsch. Das ist betrüblich, denn diese sehr gelenkige Sprache ist wunderbar.

Und wie halten Sie es mit dem Thurgauer Dialekt? Verstehen Sie, dass er vielen Nicht-Thurgauern missfällt?

Zsuzsanna Gahse: Ich höre gern Schweizer-Dialekte und den Thurgauer-Dialekt finde ich schön. Die Thurgauer haben einen spontanen Witz, den man schon bei den Kindern antrifft. Wobei ich unter witzig geistreich verstehe. Ich finde, die Schweiz kann es sich nicht leisten, sich über die Ostschweiz lustig zu machen.

Frau Gahse, wenn aus Ihrer Feder eine Ode auf den Thurgau als Bedingung für den Kulturpreis fliessen müsste - wie würde sie klingen?

Zsuzsanna Gahse: Die Ode habe ich über Müllheim und in „Instabile Texte“ (2005) schon geschrieben. Und ich habe mehr vor mit dem Thurgau. Darüber, wie sich diese Ode ausnehmen wird, darf ich jetzt noch nichts sagen, sonst misslingt mir die Idee. Eventuell gibt es ein Theaterstück.

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Zsuzsanna Gahse ist 1946 in Budapest geboren und kam nach Österreich und Deutschland vor 16 Jahren in die Schweiz. Bekannt und mehrfach preisgekrönt ist sie nicht nur als Schriftstellerin, sondern auch als Übersetzerin namhafter ungarischer Autoren.
Neben „Donauwürfel“ ist gerade auch ihr Buch „Das Nichts in Venedig“ mit Zeichnungen ihres Mannes Christoph Rütimann herausgekommen. Eine Lesung aus diesem Buch findet am 27. Oktober in der Kantonsbibliothek statt. Am Dienstag, 2. November, 20 Uhr, wird ihr im Rathaus Frauenfeld der mit 20 000 Franken dotierte Thurgauer Kulturpreis 2010 übergeben. (ho)

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