von Brigitta Hochuli, 10.01.2013
Recht – nach aussen gekehrt

Im Sulgener Niggli Verlag ist ein Prachtband zum neuen Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen erschienen. Architekten waren Astrid Staufer und Thomas Hasler mit ihrem Büro in Frauenfeld.
Brigitta Hochuli
Nicht versteckt und einbetoniert ist die Tragstruktur dieses für die Stadt St. Gallen markanten Hochhauses am Rosenberg. Auffällig nach aussen gekehrt deuten Säulen auf eine vermeintlich nach innen gekehrte Institution: das Bundesverwaltungsgericht. Am 11. Januar 2012 wurde es eingeweiht. Unter dem Titel „Bauen für die Justiz“ liegt nun ein 192 Seiten starker Bildband mit Texten in vier Sprachen über die Standortbestimmung und den Entstehungs- und Bauprozess dieses „Bauwerks von nationaler Bedeutung“ vor. Herausgegeben wurde das Werk von Staufer & Hasler Architekten im Auftrag des Kantons St. Gallen, gestaltet wurde es von Urs Stuber, Visuelle Gestaltung Frauenfeld, und gedruckt im Niggli Verlag, Sulgen.
Wettbewerb als Qualitätsgarantie
Spannend beschreibt Sylvain Malfroy, Professor für Geschichte und Theorie der Architektur und des Städtebaus in Fribourg und Winterthur, wie es zur Standortwahl und zum Bau als einem „Zeichen am richtigen Ort“ gekommen war. Fest stand im Jahr 2002 einzig der Entscheid, das neue Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen zu errichten. 2004 wurde dann ein zweistufiger internationaler Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem 197 Teilnehmer ihre Projekte einreichten. Das Architekturbüro Staufer & Hasler gewann den ersten Preis für das Gerichtsgebäude, der Berliner Dominik Uhrmeister jenen für die angrenzende Wohnüberbauung.
Analog zur Rechtsprechung würden in Architekturwettbewerben Urteilssprüche gefällt, die in der Praxis für das Fach massgeblich seien, schreibt Malfroy. Wolle ein Bauherr, dass die Disziplin Architektur für seine Problemstellung ihr Bestes biete, führe er einen Wettbewerb durch. Im vorliegenden Fall mit zwei Gewinnern habe die Mehrdeutigkeit der Aufgabe allerdings auf das Urteil abgefärbt, „sodass dieses seine kulturelle Vorbildfunktion nur mit Mühe einlösen kann“. Da es aber keine bewährten Modelle gebe, die Zusammenarbeit von Architektur und Städtebau zu garantieren, komme dem St. Galler Projekt der volle Status der Pionierleistung zu.
Vasarely würde vor Neid erblassen
Bruno Reichlin, Architekt und Professor in Mendrisio, befasst sich unter anderem mit der der Tragstruktur des Gerichtsgebäudes und beschreibt die „Genealogie der Pilaster“, die die „fünf doppelstöckigen Pools rings um den Turm tragen“. Die „fast asketische Suche nach ,zwingenden Kriterien‘ aus Tragwerkslehre, Konstruktion und Produktion“ habe sich gelohnt. Der Turm erzeuge optische Flimmereffekte im grossen Masstab und gewinne damit eine solche Präsenz, „dass auch die Meister der kinetischen Kunst wie Vasarely, Soto oder Morellet davor vor Neid erblassen würden“.
Von meisterhaft kontrollierten und ausgewogenen Raumproportionen, einem starken konstruktiven und tektonischen Ausdruck sowie einer poetisch sanften Entfaltung von Licht und Farbe spricht der Architekt und Fotograf Roland Bernath. Er hat zum Buch neben Walter Mair und Heinrich Helfenstein ausdrucksstarke Bilder beigesteuert, die erahnen lassen, wie sehr bei diesem Bau über das Zusammengehen von Inhalt und Gestaltung nachgedacht worden ist.
Rechtssprechung als Staatsfunktion diktiere keinen bestimmten Bautypus, aber die architektonische Form könne der Funktion sehr wohl einen Ausdruck geben, schreibt der Staats- und Verwaltungsrechtler Pierre Tschannen von der Universität Bern. Jeder bewusst als Gericht entworfene Neubau verrate bestimmte Vorstellungen von Justiz. Architektur könne auch vorspiegeln. Das sei beim Bundesverwaltungsgericht aber nicht geschehen. „Form und Funktion scheinen auf ehrliche Weise Hand in Hand zu gehen“. Die Gebäudeform deute auf „geradlinige, nachvollziehbare, kollegial und diskursiv erarbeitete Urteile“. Das Haus vermittle ein Gefühl der Festigkeit, Wahrhaftigkeit und Geborgenheit – „keine unwesentliche Voraussetzung guter Verwaltungsjustiz“.
„Wahrheit des Materials“ als Programm
Annette Spiro, Architekturprofessorin an der ETH Zürich, befasst sich mit den formalen Vorbildern von Staufer & Haslers Architektur. Sie sieht Assoziationen etwa zu Oscar Niemeyers Regierungspalast in Brasilia, aber auch zur Tradition der Justizgebäude, die ihre Bedeutung einst mit einer Tempelfront bekräftigt hätten. Das Bundesverwaltungsgericht sei aber kein klassizistischer Bau, versichert Spiro. Trotz Kolossalordnung gehöre die Fassade der Moderne an. Klassische Ordnungen und Moderne, diese unterschiedlichen Bilder könnten „den eigenartig entrückten Ausdruck des Gebäudes nicht vollends erklären. Programm bei Staufer & Hasler sei vielmehr die „Wahrheit des Materials“. Hier liege die Qualität des Baus. Die vordergründig einfache Zuordnung von Materialien sei in Wirklichkeit komplex und spiegle die Frage nach Recht und Gerechtigkeit wohl „wahrer“, als es die Reduktion auf ein einfaches Konzept jemals könnte.
Die Beiträge spiegeln insgesamt die Anliegen, die den Architekten so am Herzen liegen, nämlich eine objektive Raumgeometrie mit einer zurückhaltenden, aber gepflegten Materialität und Farbigkeit zu verbinden. „Damit entsteht ein lebendiger, zu den Menschen hin oszillierender Raum.“ Der Aufbau dieses Spannungsfeldes zwischen den gebauten Elementen und der Person – das ist für Staufer & Hasler zentral. Wie dieses Spannungsfeld in St. Gallen nach und nach entstanden ist, zeigt im übrigen ein grosser Foto- und Text-Essay des renommierten Architekturfotografen Heinrich Helfenstein darüber, „wie die Gestalt erscheint“.
***
✘ Staufer & Hasler Architekten, Bundesverwaltungsgericht, Bauen für die Justiz
192 Seiten, über 150 Abbildungen und Pläne, ISBN 978-3-7212-0834-4, Niggli Verlag, Sulgen 2012
✘ Textbeiträge von: Christoph Bandli, Werner Binotto, Silvain Malfroy, Bruno Reichlin, Pierre Tschannen, Valentin Bearth, Aurelio Muttoni, Annette Spiro
✘ Bildbeiträge von: Roland Bernath, Walter Mair, Heinrich Helfenstein

Weitere Beiträge von Brigitta Hochuli
- Kultur für Familien: Was im Thurgau noch fehlt (06.09.2018)
- Rätsel gelöst: So alt ist der Kunstraum Kreuzlingen (29.06.2018)
- Musikschule Kreuzlingen sucht Verbündete (14.06.2018)
- Kult-X in WM-Stimmung: Das etwas andere Public Viewing (29.05.2018)
- Unterm Sternenhimmel (13.05.2018)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Wissen
Kommt vor in diesen Interessen
- Architektur
Ähnliche Beiträge
Neues Zentrum für Baukultur
Die Denkmal Stiftung Thurgau wird 20 Jahre alt in diesem Jahr. Mit einem neuen Projekt will sie auch die Zukunft gestalten. mehr
Überraschende Zusammenhänge
Museum Rosenegg: Die Sonderausstellung «kunst werk bau» bringt Kunst und Architektur noch bis 7. April in Kreuzlingen zusammen. mehr
Der Sog der Stadt
Von Utopie zu Dystopie ist es manchmal nur ein kleiner Schritt: In der Ausstellung „Youtopia“ im Konstanzer Turm zur Katz können Besucher:innen ihre eigene Traumstadt entwerfen. mehr