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von Patrizia Barbera, 10.07.2015

Bitter-kaltes Ende

Bitter-kaltes Ende
Eine Liebe, die nicht sein darf: Vrenelli und Sali auf der Naturbühne im Kreuzlinger Seepark. | © Mario Gaccioli

Theater, Shakespeare – nur etwas für Literatur- und Theaterkenner? Nicht so in Gottfried Kellers Romeo-und-Julia-Adaption und der atmosphärisch gelungen umgesetzten Inszenierung des See-Burgtheaters.

Patrizia Barbera

„Diese Geschichte zu erzählen würde eine müssige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind.“


Gottfried Kellers Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ ist eine Parabel darauf, wie berühmte literarische Werke sich in unser aller Gedanken und täglichen Auseinandersetzungen wiederfinden. Oder anders herum: Welch bedeutende Nachrichten die „grossen Werke“ wie Shakespeares Romeo und Julia in sich tragen. Nicht nur für langjährige Literatur- und Theaterkenner, sondern für jede und jeden.

Wir-Gefühl und Abgrenzung gegen das „Fremde“

Die vermeintliche Hürde zwischen bedeutendem Werk mit hochtrabenden Worten und Inspiration fürs eigene Leben wollten sowohl Gottfried Keller als auch das See-Burgtheater den Zuschauern nehmen. „Was gesagt wird, soll auch verstanden werden“, so der eigene Leitsatz des Theaters, das seit 1990 regelmässig vor szenischer Seekulisse in Kreuzlingen spielt.

Und so beginnt „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, inszeniert von Astrid Keller –Mitbegründerin, Co-Leiterin und Schauspielerin des See-Burgtheaters–, sogleich mit zentralen Konflikten des Zusammenlebens.

Ein Fremder, ja, noch schlimmer, ein Heimatloser, zieht mit seiner musikalischen (Zigeuner-)Begleitung ins Dorf ein und erhebt Anspruch auf den wertvollsten Acker der Gemeinschaft.
Bühnenbild Seeburgtheater

Mit Blick zum Publikum spricht die Dorfgemeinschaft über Gemeinschaft, Fremde und Zugehörigkeit. Bilder: Mario Gaccioli

„Die Heimatlosen bedrohen uns! Sie stehlen was nicht niet- und nagelfest ist! Sollen sie doch hingehen, wo sie herkamen – zu den Indianern“, schreien die Dorfbewohner, aufgereiht mit dem Rücken zum See, den Blick direkt aufs Publikum vor ihnen gerichtet, aufgeregt und voller Inbrunst.

Obwohl der Hinweis mit den Indianern etwas hinkt im sonst szenisch und atmosphärisch beeindruckend umgesetzten Bühnenbild, das auf Gottfried Kellers Schaffenszeit Ende des 19. Jahrhunderts hinweisen soll, fiebert das Publikum am Premierenabend gespannt mit. Bestaunt wird vor allem das „mit einfachen Mitteln so atmosphärisch umgesetzte Bühnenbild“, wie eine Besucherin aus Romanshorn in der Pause der Inszenierung anmerkt.

Das See-Burgtheater

Das See-Burgtheater trat erstmals 1990 im Jahr seiner Gründung mit dem Stück „Biedermann und die Brandstifter“ im Schloss Seeburg auf. Der selbst auferlegte Anspruch: Zuschauer erobern, die sonst nicht ins Theater gehen. Und das mit aktuellem, kritischen Volkstheater, bei dem bestenfalls der Universitätsprofessor neben dem Landwirt sitzt und beide trotzdem angesprochen werden von der Inszenierung. „Was gesagt wird, soll auch verstanden werden.“ Finanziert wird das See-Burgtheater aus dem Lotterie-Fonds des Kantons Thurgau, der Stadt Kreuzlingen, von Gemeinden, Stiftungen, Sponsoren aus der Wirtschaft und den Einspielergebnissen. (pba)


Auf einem Steinberg, vor immer wieder leicht aufbrandendem Wasser des Bodensees, mit vorbeiziehendem Segelboot und bunt-schillerndem Spinnaker, Bastkörben und Holzfensterrahmen, die von den die Szene einrahmenden Bäumen hängen, entfaltet sich die Adaption des Klassikers. Von Keller (sowohl Gottfried als auch Astrid) bewusst in sprachliche und szenische Kontexte gesetzt, die Zuschauer nachspüren und mitfühlen können.

Wohl diesem Ansatz zufolge tauchen auch sprachlich mehrere Dialekte und Mundartausdrücke auf. An einer Stelle will das plötzlich sehr schwäbisch anmutende nicht ganz zum Hochdeutsch-Schweizerdeutschen-Sing-Sang passen, das sich gemeinsam mit den „Gypsy-Musik“-Begleitliedern des 13-köpfigen Chors zu einem bunten Mischmasch Sprachfärbungen zusammenfügt hatte zuvor.

Selbstbestimmung in einer Welt der Konventionen

Nach gut zwei Stunden Inszenierung endet das Stück, nachdem das Publikum gemeinsam mit Vreneli und Sali (gespielt von Anna Blumer und Raphael Tschudi) um deren Liebe fiebert, die schon bevor sie richtig erblüht, zum Scheitern verurteilt ist und Feindschaft, Missgunst, Neid und Hass nährt, am Ende aber doch für einen Akt der Selbstbestimmung und stillen Auflehnung gegen einschnürende gesellschaftliche Konventionen steht.

Vereint beim ausgelassenen Tanz und doch nicht glücklich: Das Liebespaar Vrenelli und Sali fasst einen drastischen Entschluss, um ihre Liebe für immer am Leben zu halten.

Es ist schon dunkel, als das Liebespaar den Steinhaufen verlässt. Nichts hält sie mehr, auch nicht ihre Kleidung. Die plötzliche Nacktheit der beiden überrascht das Publikum kurz und sorgt für einen Moment stillen Staunens – nicht, weil es so verrucht oder erotisch unangepasst wäre – Nacktheit ist ja bekanntlicherweise ein gängiges Mittel und gehört schon fast zu einer modernen Inszenierung dazu –, sondern weil es in seiner Eindringlichkeit so nicht vorkam. „Vielleicht können wir das Elend ja nur gut machen, wenn wir zusammen halten?“, sagt sie voller Hoffnung in der Stimme.

Kurz stockt der Atem der Eltern neben mir, die ihren 10-jährigen Sohn dabei haben. Am Ende fliegt ein Herzluftballon davon und viele staunende Blicke schauen sich in der Umgebung nach dem Schauspiel-Liebespaar um. Mehr sei nicht verraten. Ausser, dass auch in der Schlusszene der ein oder andere Zuschauer gedanklich mitzitterte.

Gottfried Keller und die Gesellschaftskritik

September 1847 liest der damals 28-jährige Keller, der sich in Zürich als politischer Lyriker und Parteigänger des radikalen Liberalismus einen Namen gemacht hatte, in der Zürcher Zeitung über den Freitod eines jungen, ärmlichen Paares aus Sachsen: „Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödtlichen Freindschaft lebten, und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15. August begaben sich die Verliebten in eine Wirthschaft, wo sich arme Leute vergnügten, tanzten daselbst bis Nachts 1 Uhr, und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Leichen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen.“ Den jungen Lyriker beeindruckt und inspiriert die Meldung über das junge Paar, das – aus einer ganz anderen Schicht als Shakespeares „Romeo und Julia“ stammt – und sich dennoch der gleichen „edlen“ Motive, nämlich der Auflehnung gegen eine Gesellschaftsordnung, die es Liebenden nicht erlaubt, in Recht und guten Sitten zusammenzuleben, bedient. Die Geschichte „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ ist Teil des Novellenzyklus „Die Leute von Seldwyla“. (pba)

 
***

Mehr zum Thema:

Maximal reduzierte "Carmen" - thurgaukultur.ch vom 11.07.2014
Oper à la Huber - thurgaukultur.ch vom 12.07.2013


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Das Detailprogramm mit Spielzeiten und Vorverkauf finden Sie hier:

www.see-burgtheater.ch

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