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von János Stefan Buchwardt, 17.07.2017

Lustig und verlustig

Lustig und verlustig
Das Ensemble von «Kasimir und Karoline», | © Mario Gaccioli

Ungestilltes Verlangen nach Liebe und Leben erfährt am sommerlichen Theaterschauplatz im Kreuzlinger Seeburg-Areal einen obskuren Spagat zwischen einnehmend und reisserisch. Trotz ankerloser conférencieller und musikalischer Manier ermöglicht Astrid Kellers Inszenierung Einblick in die Herzkammern des Horváthschen Volksstücks.

Unzählige Theaterleute haben sich die Zähne daran ausgebissen, Ödön von Horváths «Kasimir und Karoline» adäquat beizukommen. Hier ist es weniger nah am Gelingen als erhofft und weit weg von der letztjährigen stimmigen Inszenierung anderer Provenienz im Spiegelzelt. Auf der regelmässig eingerichteten «See-Burgtheater»-Bühne werden die Rollen heuer zwar in gelehriger, also durchaus herzeigbarer Folgsamkeit präsentiert, die den Abend bestimmende Hauptklage brennt aber fiebrig auf der Zunge: Würde die Regie doch nur vorsichtiger mit den notwendigen Leerstellen und Resonanzräumen des sozialkritischen Klassikers moderner Theaterliteratur umgegangen sein! Ihm die Freiheit des respektvollen Nachschwingen-Könnens zu nehmen, rächt sich postwendend.

Schicksalsergebene Ensembleleistung

Maria Lisa Huber, fraglos vielversprechender Spross aus der «See-Burgtheater»-Familie, und der formgewandte Schweizer Kaspar Locher in den Hauptrollen sind auf ihre Art beileibe glaubhaft. Auf die Fortentwicklung beider darf man gespannt sein, ebenso auf den zukünftigen Werdegang der weiteren jungen Talente (Lennart Lemster als Merkl Franz, Tatjana Sebben als Erna, Florian Steiner in der Rolle des Eugen Schürzinger). Ausgesprochene Publikumslieblinge wie der erfahrene Werner Biermeier (Rolle: Rauch) und der versierte Bastian Stoltzenburg (Rolle: Speer) überzeugen für sich genommen wie auch die kleineren Rollen der Elli und der Maria (Miriam Dey und Mahalia Slisch). Nichtsdestotrotz, sie alle bringen den Funken nicht zum Springen.

Gott als Herr des Zufalls

Bleiben noch Andrej Reimann als brachialer Ausrufer und Elvio Avila als dessen stummer Assistent. Bei Ersterem entzündet sich (vorderhand) die Sündenbockrolle. Jeder, jede verschafft sich hinlänglich Gehör, die schreierische Impulsivität des Conférenciers jedoch fährt das sozialpolitische Stoffgeflecht des grossen Schriftstellers ungarischer Staatsbürgerschaft geradezu an die Wand. In den Strudel von Uneingebundenheit gerät denn auch das florentinische Baro Drom Orkestar. Zweifellos, es orchestriert in allen Lagen und unterhält. In Kombination mit den grobkörnig gepfefferten Moderationen indes wankt das Bühnen-Baugerüst, auf dem gespielt wird, als würden Sturmböen die Kulisse des Bodensees aufpeitschen.

Von Gott spricht Horváth als einem Herrn des Zufalls. Hat sich die Regisseurin solch fatalistischer Prämisse unterworfen? Allein in diesem Punkt hätte sie bewusst austarierend eingreifen, für einmal horváthfremd agieren müssen. Ergreifend gesprochen: Es schmerzt, das Stück fast Schiffbruch erleiden zu sehen. Der Autor selbst sah sich einst gezwungen, eine Gebrauchsanweisung nachzureichen. Darin nimmt er jegliche Schuld am möglichen Misslingen auf sich. Viele Jahrzehnte später kann das nicht mehr als Freibrief herhalten. Die «junge» Regisseurin Keller muss Gelungenem begegnet sein. In ihrer Karriere als Schauspielerin habe sie den horváthschen Kanon doch rauf und runter gespielt.

Regisseurin Astrid Keller, die beim Theater Konstanz 1987 schon selbst als Karoline auf der Bühne stand. Bild: Mario Gaccioli

Dass sich die verfehlte Liebesgeschichte um den arbeitslosen Chauffeur und seine Braut dennoch entfaltet, bleibt selbstverständlich Verdienst der Garde der engagierten Beteiligten. Dass dem künstlerischen Bühnenpersonal - stellvertretend für uns Zuschauerinnen und Zuschauer - in vollendeter Episodenhaftigkeit mit Desillusionierung zugesetzt wird, lässt sich in Teilstrukturen herausschälen. Dass die dramatische Zauberhaftigkeit an grundsätzlicher Stärke nichts einbüsst, verlangt uns einen Akt spontaner Selektion ab, der besonders unter freiem Sommertheater-Himmel nichts zu suchen hat. Zum Schluss ist man des aufgezwungenen Hinweg- und Hinzudenkens müde. Die schön und dominierend in das schlichte Bühnenbild gesetzten Jahrmarktsglühbirnen (Bühne/Kostüme: Beate Faßnacht, deren Setting mannigfaltige Spieloptionen bietet) erlöschen.

Wund und weh

Was zurückbleibt, ist die Sehnsucht nach dem akzentuierteren Wandel der Bewusstseinslagen, den viele Dialogszenen elementar in sich tragen. Das Sternschnuppengleiche der Erkenntnisbahnen bräuchte Raum (vielleicht sogar den geschlossenen Bühnenraum), denn die wahrhaftige Naivität der Lebensweisheiten wartet in so vielen Momenten nur darauf, gut geführt aufblitzen und ausströmen zu dürfen. Die Intermezzi müssten dem unbedingten Stilisierungsgrad ausgewogener angepasst werden. – Alles besser wissen zu wollen, mag überheblich erscheinen. In Tat und Wahrheit ist es eine ehrenwerte Einstellung der Theaterleute, nicht profitverliebt publikumswirksame Schauspiel-Gassenhauer zu servieren. Das ist herausfordernd und darf beim Kritiker für einmal halt auch durchfallen. Aber wund und weh hätte es einem am Bodensee-Gestade wahrlich werden müssen.

 

Termine: Das Stück "Kasimir und Karoline" ist noch bis zum 10. August zu sehen. Alle Termine im Überblick gibt es hier

 

Weitere Bilder aus der Inszenierung (alle von Mario Gaccioli)

Weiterlesen:

Zur Entstehung der diesjährigen Inszenierung können Sie hier mehr lesen http://www.thurgaukultur.ch/magazin/3182/

"Dunkle Sehnsucht am Oktoberfest": Rolf App von der Thurgauer Zeitung über die Premiere 

"Was die Liebe aushalten kann": Maria Schorpp schreibt für den Südkurier über die Inszenierung

 

 

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