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Mein Jahr im Thurgau

Mein Jahr im Thurgau
"Die Dinge der Woche" sind der Blog des Thurgaukultur-Redaktionsleiters Michael Lünstroth | © Michael Lünstroth

Seit einem Jahr beobachtet Thurgaukultur.ch-Redaktionsleiter Michael Lünstroth intensiv die Kulturszene im Thurgau. Zeit für eine kleine Bilanz. Eine Kolumne über Romantik, Herzblut und die Kultur-Baustellen im Thurgau

Von Michael Lünstroth

Reden wir offen: Romantik ist auch nicht alles. Vor allem ihn beruflichen Dingen sind Vernunftehen manchmal doch die zuverlässigsten und nachhaltigsten Bindungen, Mir ging es jedenfalls so. Ganz ehrlich: Als ich vor einem Jahr bei thurgaukultur.ch eingestiegen bin, war ich nicht Hals über Kopf verknallt in diese neue Aufgabe. Also nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich hatte Lust darauf, der Job erschien spannend, das Angebot passte perfekt zu meiner familiären Situation und es eröffnete mir die Möglichkeit, Journalismus noch mal anders zu denken. Aber, sagen wir es so, Herzrasen verursachte es mir erstmal nicht. Die Vertragsunterschrift war eine rationale Entscheidung. Vielleicht lag meine anfängliche Zurückhaltung auch an dem Respekt, den ich vor der Aufgabe hatte. Aus zwei Gründen: Ich wusste um die beeindruckende und aufopferungsvolle Arbeit, die meine Vorgängerin Brigitta Hochuli in den vergangenen Jahren geleistet hatte und ich wusste, dass ich mit einem 50-Prozent-Pensum nicht alles werde machen können, was ich gerne machen würde.

Heute, ein Jahr später, weiss ich: Alles war richtig. Mein erstes Jahr im Thurgau war spannend, abwechslungsreich, überraschend und vor allem voller Begegnungen mit sehr engagierten und bemerkenswerten Menschen. Nach einem Jahr kann man sich ja durchaus ein Urteil zutrauen zur Lage der Kultur im Kanton. Wie steht es also um die Kultur im Thurgau? Viel besser als es all das Gerede um den angeblich so kulturfernen Kanton behauptet. Was mich besonders beeindruckt hat: Fast ganz egal, wo man im Thurgau hinkommt - in fast jedem kleinen Dorf gibt es mindestens eine Initiative, die sich liebevoll um die Kulturpflege kümmert. 

Warum mich die Vielfältigkeit überrascht hat

Offen gestanden hatte ich bei meiner Vertragsunterschrift auch nicht erwartet, eine so vielfältige und reiche Kulturlandschaft vorzufinden. Von den grossen kantonalen Museen bis zu so alternativen Modellen wie dem Transitorischen Museum von Alex Meszmer und Reno Müller in Pfyn, von den vielen aussergewöhnlich guten Galerien bis hin zu dem leidenschaftlichen Engagement von privaten Initiativen wie dem Cinema Luna, dem Roxy, der Theaterwerkstatt oder - eine Nummer kleiner, der Wohnzimmerreihe Forum B in Büren, von der vorbildlichen Programmierung von Institutionen wie dem Kulturforum Amriswil, dem Eisenwerk Frauenfeld oder der Kreativität der jungen Kulturmacher des KAFF in der Kantonshauptstadt - wer will, kann jederzeit in seiner Nähe interessante Kulturangebote finden. Das ist angesichts der Dezentralität des Kantons eine Leistung, die man nicht geringschätzen sollte. Klar: Nicht jede Aufführung, nicht jede Ausstellung, nicht jedes neue Buch ist deshalb herausragend, aber, wenn ich etwas gelernt habe im vergangenen Jahr, dann, das in jedem Engagement unglaublich viel Liebe und Herzblut steckt. 

Während das Angebot also vorhanden ist, fehlt mir vor allem eines immer wieder: eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem, was in all diesen Kulturorten gezeigt wird. Die Diskussion über Kultur erschöpft sich allzuoft in einer zurückhaltenden Zurkenntnisnahme. Kritik wird oft, wenn überhaupt, nur hinter vorgehaltener Hand, oder, noch schlimmer, nur hinter dem Rücken der Kritisierten, geäussert. Ich habe noch nicht ganz verstanden, warum das so ist. Ist es die Angst, dass Kritik den eigenen Status untergraben könnte? Falls es das wäre, rate ich zu mehr Selbstbewusstsein - in den vergangenen Jahren hat die Kultur im Thurgau so viele erstaunliche und bemerkenswerte Projekte auf die Beine gestellt, dass sie sich gelassen allen Debatten stellen könnte, ohne Angst haben zu müssen, die eigene Existenz durch Diskussionen aufs Spiel zu setzen.

Kulturpolitik hat Fehler gemacht, aber nicht alles ist schlecht

Das hat natürlich auch viel mit Kulturpolitik und Kulturförderung zu tun. Die ist eigentlich gut ausgestattet: Es gibt das Prinzip Giesskanne - realisiert dank der Mittel aus dem Lotteriefonds - und es gibt gezielte Fördermassnahmen wie beispielsweise die Initiativen der Kulturstiftung, die möglich machen, was auf dem freien Markt sonst wenig Chancen hätte. Betrachtet man nur das Kulturangebot im Thurgau heute, muss man anerkennen, dass in den vergangen Jahren in der Kulturpolitik nicht so furchtbar viel falsch gemacht wurde. Andererseits: Meckern kann man immer und natürlich hat auch die Politik Fehler gemacht. Stichwort An- und Neubau Kunstmuseum. Oder Stichwort Museumsstrategie. Da tritt der Kanton seit Jahren auf der Stelle. Zum Leidwesen der Einrichtungen und ihrer Besucher. Und: Auch heute ist nicht immer alles so transparent, wie man es sich wünschen würde. 

Was bleibt unterm Strich? Die Kulturszene im Thurgau ist vielfältiger und spannender als es mancheiner von aussen behauptet. Richtig ist aber auch: Da ist noch Luft nach oben. Es gibt schliesslich nichts Gutes, was nicht noch besser werden könnte.

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