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von Brigitta Hochuli, 11.07.2012

Urs Graf im Internet: Im Juli Tag für Tag ein neues Bild

Urs Graf im Internet: Im Juli Tag für Tag ein neues Bild
Das Medium Web sei ein ungeheuer faszinierendes Darstellungsmittel, um Prozesse und mittels Verlinkungen Bezüge innerhalb des Gesamtwerks sichtbar zu machen, sagt Urs Graf vor dem i Mac in seinem Haus in Ermatingen. | © Brigitta Hochuli, Retouchen: ug

Der Maler Urs Graf wohnt seit fünf Jahren in Ermatingen hoch über dem Untersee. Wie sich täglich Wetter und Farben ändern, aktualisiert er zurzeit auch seine Webseite.

Brigitta Hochuli

Man kann mit ihm stundenlang vor dem iMac sitzen. Ermüden die Augen, lässt er den Blick in die Bodenseelandschaft schweifen. Bei klarem Wetter öffnet sich der Winkel vom Allgäu über die Konstanzer Münstersilhouette bis in den Hegau. Das schmale Band des hier grösstenteils seichten Untersees kann dann violett werden. Auf der Krete über Ermatingen hat Urs Graf ein lichtdurchflutetes Atelierhaus gebaut - „mit so vielen Wänden wie in keiner Galerie“.

Die Aussicht und das schöne Haus hat er verdient. Kaum einzogen, hatte er zwei Jahre lang grosse gesundheitliche Schwierigkeiten. Heute arbeitet er wieder so intensiv wie je, ordnet sein künstlerisches Werk zudem seiner Webseite zu und schafft in Powerpoint-Präsentationen immer neue „verrückte“ Bezüge.

Zunehmend Teil der Kunst

Aktuell zeigt er im Juli täglich eine neue Seite aus dem „Buch Mai 1990 - August 1990“. Solche Bände gibt es über hundert; es sind nicht herkömmliche Tagebücher, vielmehr gebundene Blätter, bemalt, beklebt, beschriftet mit Eindrücken aus aller Herren Ländern. Zudem voller Beobachtungen und Seherlebnissen, festgehalten mit den verschiedensten bildnerischen Mitteln und Techniken, voller Ideen und Konzepte für neue Arbeiten, voller Fundstücke und Bildmaterial aus Presseerzeugnissen, die später vielleicht in einer Collage verwendet werden, voller visualisierter Gedanken und Phantasien sowie voller Notizen und Kommentaren zum Zeitgeschehen.

Daraus und aus seinem digitalen Archiv schöpft Urs Graf und alimentiert im Internet seinen Fundus. Die Arbeit an seiner Webseite verstehe er zunehmend als Teil seiner Kunst. „Es geht auch hier um Fragen der Gestaltung.“ Formale Aspekte, Relevanz der Thematik, Qualität oder Zeitbezug spielten bei der Sichtung früherer Werke eine ähnliche Rolle wie während der Entwicklung eines neuen. „Das Medium Web ist ein ungeheuer geeignetes Darstellungsmittel“, findet Urs Graf, der sich das Handling erst vor kurzem selber beigebracht und seine Seite ohne Spezialistenhilfe eingerichtet hat. Nach der Übertragung ins Netz hätten die Bücher und die vielen Fundstücke darin eine andere Präsenz. „Denn hier riechen sie nicht und setzen auch keine Staub an.“

Das Drama an verschiedenen Orten

Was in den realen „Büchern“ nicht möglich ist und einen fasziniert am Bildschirm kleben lässt, sind die Zuordnungen jenseits der Chronologie. „Das Drama wiederholt sich an verschiedenen Orten,“ erklärt Urs Graf. So geht es in einer Zusammenstellung unter dem Titel „KRANKHEIT.TOD.1“ um den Kampf der Geschlechter, den er heute entspannter angeht, um Erotik und Sexualität als „Grundlagen der menschlichen Existenz und auch Antrieb für die Kultur“ sowie um die Freude am Gestalten - ebenfalls der Lust entsprungen und ein ganzes Leben lang Thema gewesen. In den expressiven Arbeiten der 80er Jahre sei zum Beispiel vieles vorweg genommen, was später im Zusammenhang mit den gesundheitlichen Problemen dramatische existentielle Bedeutung bekommen habe: Etwa der „Totentanz in der Holzbrücke“, gezeigt an der CH-Biennale Olten 1985, ein Jahr später furchterregende Gouache-Bilder von Tschernobyl, 2008 mit neuem Sinn aufgeladen in den Zeichnungen auf Menue-Plänen des Spitals.

Webseite als Vorläuferin einer Monografie

Urs Grafs Website hat auch die Funktion einer künftigen Monografie in Buchform. Und sie stösst auf Resonanz. 100 Besucher hätten sich in den letzten zehn Tagen eingefunden, rapportiert er nicht ohne Stolz. Wir haben uns an diesem Nachmittag in den zahlreichen Unterseiten von www.ursgraf.ch festgebissen und kleben nach Stunden immer noch am Mac. Wir betrachten Zeichnungen, die Malerei, Collagen und Décollagen, Beispiele für Kunst am Bau und unter der Rubrik „Dies und Das“ drei Bilder zum Thema Fetisch. Dann springen wir zu den vielen Selbstbildnissen, zu seinem Vater, dem Maler Ernst Graf, oder zu einer Graffitiwand in New York. Auch durch die „Facetten 13“ (2011) der Kulturstiftung des Kantons Thurgau kann man blättern und sich auf einer ungewohnten Ebene neu darüber freuen.

Diverse Verlinkungen ermöglichen intuitives Stöbern und geben der Webseite den Charakter eines Bilderbuchs. Darin stossen wir auch auf Urs Grafs Bekenntnis, sich bei Jeff Koons vom Saulus zum Paulus gewandelt zu haben oder auf den Kommentar zum „peinlichen Thurgauer Apple-Logo“ und den wurmstichigen Glockenapfel als Gegenentwurf. Kommentare helfen ihm, eine kritische Position gegenüber der eigenen Arbeit zu finden und sie als Prozesse zu verstehen. „Ich staune darüber, wie powervoll meine Bilder in den 90er Jahren waren und wie viel roher und direkter sie heute sind.“

Nun schauen wir vom Bildschirm auf und in den Himmel. Eine unscheinbare Wolke über der Insel Reichenau hat eine eigenartige Erscheinungsform angenommen. Wichtig sei nicht das Phänomen an sich. Es gehe auch nicht um eine naive künstlerlische Interpretation. Wichtig sei die Form. Man müsste die Wolke abändern, damit sie in ein Bild passen würde. „Aber ich male ja keine Landschaften", sagt der Maler und stellt den Computer bis auf weiteres ab.

***

Zur Person

Urs Graf wurde am 26. Dezember 1942 in Ermatingen als Sohn des Malers Ernst Graf geboren. Nach dem Lehrerseminar in Kreuzlingen absolvierte er eine Turn- und Sportlehrerausbildung an der ETH und ein Studium von Kunstgeschichte und Archäologie. Die Zeichenlehrerausbildung mit Diplom erhielt er an der Kunstgewerbeschule in Zürich. 1971 bis 1974 gab er Turn- und Zeichenunterricht an den Kantonsschulen Romanshorn und Kreuzlingen. Von 1974 bis 2005 war Urs Graf Zeichenlehrer am Seminar Kreuzlingen. Viele Reisen führten ihn vorallem nach Paris, Berlin und New York. Seit 2005 lebt er wieder in Ermatingen. Graf ist Mitglied von Visarte, der Thurgauer Künstlergruppe "kunst thurgau" und des Internationalen Bodensee-Clubs. (red)

www.ursgraf.ch

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