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von Brigitta Hochuli, 20.10.2010

Zum Fall gemacht, zum Fall geworden

Zum Fall gemacht, zum Fall geworden
Flüchtling und Psychiatriepatient: Rolf Merzbacher im Alter von 20 Jahren. | © Aus der Krankenakte im Staatsarchiv des Kantons Thurgau

Die Nachforschungen des Historikers Gregor Spuhler über das Leben und Leiden des jüdischen Emigranten und Psychiatriepatienten Rolf Merzbacher erscheinen nächstes Jahr in Buchform. Bereits im Jahr 2002 waren für die Publikation aus dem Lotteriefonds des Kantons Thurgau 50 000 Franken bewilligt worden.

Brigitta Hochuli

Stationen des jungen jüdischen Arztsohnes Rolf Merzbacher in der Region Thurgau sind ab 1936 Konstanz, Kreuzlingen, Bottighofen und Tägerwilen, wo er wohnte, zur Schule ging und bei Bauern arbeitete, sowie die psychiatrische Klinik Münsterlingen. Hier wurde aus einem „rätselhaften Fall“ der Fall einer "erblich bedingten Schizophrenie". In Frauenfeld befasste man sich später mit der Ausweisung des Unerwünschten. Ein Kapitel des nächstes Jahr erscheinenden Buches von Gregor Spuhler wird sich mit der Wiedergutmachung in Deutschland befassen.

Im Thurgau kein Unbekannter

Spuhler ist im Thurgau kein Unbekannter. Er war von 1995 bis 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter des kantonalen Staatsarchivs und ist Autor des Buches „Frauenfeld - Geschichte einer Stadt im 19. und 20. Jahrhundert (1996) sowie Mitautor des Geschichtslehrmittels für 14- bis 18-Jährige „Hinschauen und nachfragen. Die Schweiz und die Zeit des Nationalsozialismus im Licht aktueller Fragen“ (2006). Von 1997 bis 2001 war Spuhler Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Sein Schwerpunkt waren die Flüchtlingspolitik und «Arisierungen». Seit 2007 ist er Leiter des Archivs für Zeitgeschichte an der ETH Zürich.

Manuskript abgeschlossen

Bereits 2002 erhielt Gregor Spuhler aus dem Lotteriefonds des Kantons Thurgau 50 000 Franken für die wissenschaftliche Analyse des Falls des 1924 im württembergischen Öhringen geborenen Rolf Merzbacher. Die Arbeit hat sich verzögert. Jetzt aber kann man auf die Ergebnisse gespannt sein. Dies ist auch der Thurgauer Staatsarchivar André Salathé, Spuhlers früherer Chef. „Ich freue mich, dass das Buch fertig ist und dass es jetzt nur noch um den Druck geht.“ Einen Verlag hat Gregor Spuhler zwar noch nicht gesucht, aber das Manuskript sei praktisch abgeschlossen.

Psychiatrie-Forschung bereits publiziert

Es sei ihm einiges klar geworden zur Rolle des Thurgaus in der Flüchtlingspolitik nach 1945, sagt Gregor Spuhler auf Anfrage von thurgaukultur.ch. Über die „Ausweisung eines unerwünschten Juden: Frauenfeld 1945 - 1951“ sowie die „Wiedergutmachung in Deutschland 1948 - 1973“ wird Genaueres aber erst im neuen Buch zu lesen sein.

Mehr weiss man bereits über die „ärztliche Hilfe“, die dem jungen jüdischen Patienten Rolf Merzbacher von 1942 bis 1945 in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen zuteil geworden war. Diese Nachforschungen hat Spuhler in einem Sammelband im Campus Verlag (April 2009 ) unter dem Titel „Zum Fall machen, zum Fall werden - Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts“ bereits publiziert. Dort wird geschildert, wie der 13jährige Knabe, 1936 zu den Grosseltern nach Konstanz gebracht, die Schule in Kreuzlingen besuchte, während die Eltern 1943 und 1944 in einem deutschen Konzentrationslager umkamen. Diese Belastung sowie Aufenthalte in Schweizer Flüchtlingslagern hatten den jungen Rolf seelisch anfällig gemacht. Er blieb bis zu seinem Lebensende pfegebedürftig.

61 Elektroschocks

Für die Aufarbeitung der Zeit in Münsterlingen hat Gregor Spuhler aufgrund eines Regierungsratsbeschlusses die Patientenakten der Psychiatrischen Klinik einsehen können und untersucht, „wie sich das damalige psychiatrische Wissen und die Behandlung durch die Ärzte zueinander verhielten und wie Rolf Merzbacher diese Behandlung erlebte“. Dabei geht es Spuhler nicht um das Einzelschicksal und die Bestätigung bekannter Tatsachen. Er will etabliertes Wissen über Strukturen und Prozesse mit dem Fall Merzbacher konfrontieren und zu einem vertieften Verständnis damaliger Wirklichkeiten beitragen. Wirklichkeiten waren zum Beispiel 61 Elektroschocks, die am Patienten zwischen 1944 und 1951 durchgeführt wurden und für die der stellvertretende Direktor der damaligen Heil- und Pflegeanstalt, Roland Kuhn, verantwortlich war. Kuhn, sagt Spuhler, habe eine philosophisch-psychologische und eine naturwissenschiaftliche Psychiatrie miteinander vereint.

Zunächst rätselhaft

Der junge Rolf Merzbacher kam ursprünglich freiwillig wegen Konzentrationsstörungen in die Klinik. In der Krankenakte wird sein Fall zunächst als „rätselhaft“ beschrieben. Die fehlende Integration in eine Familie, die Unmöglichkeit, das Gymnasium zu besuchen, und Schuldgefühle wegen des Schicksals der Eltern seien bei der Behandlung ausgeklammert worden, so Spuhler. Die Judenverfolgung sei in der damaligen Psychiatrie verdrängt und im Kontext des Krieges als untergeordnetes Problem wahrgenommen worden. Schliesslich kam es zur Diagnose Hebephrenie mit Wahn- und Grössenideen und am Ende einer erfolglosen Psychotherapie 1943 zur Diagnose einer erblich bedingten Schizophrenie. Rolf Merzbachers Zustand verschlechterte sich. 1945 wog er noch 37 Kilogramm. Später überwand er diese laut Gregor Spuhler lebensbedrohliche Krise, blieb aber zeitlebens pflegebedürftig. Als ihn die Fremdenpolizei des Kantons Thurgau nach dem Krieg nach Deutschland abzuschieben versuchte, half dem Emigranten die Israelitische Gemeinde Kreuzlingen und erreichte, dass er 1951 in die psychiatrische Klinik Waldhaus in Graubünden verlegt wurde, wo er 1983 an Krebs starb.

Gregor Spuhlers Forschungsresultate sind bereis 1970 bestätigt worden. Damals sei ein Gutachten zum Schluss gekommen, dass Merzbachers Erkrankung durch die nationalsozialistische Verfolgung mitverursacht worden sei. „Wege der Erinnerung“ wird Spuhler im letzten Kapitel seines Buches abschreiten. Man wird ihn mit Interesse dabei begleiten.

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