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von Inka Grabowsky, 28.05.2025

Brücken bauen wörtlich genommen

Brücken bauen wörtlich genommen
Viele Akteure halfen mit, eine Brücke in der Brücke zu bauen, die für das friedliche Miteinander steht. | © Inka Grabowsky

Das thurgauische Diessenhofen und das deutsche Gailingen feierten ihren zweiten Kulturellen Begegnungstag auf der historischen Holzbrücke die beide Gemeinden verbindet. Der Künstler Adrian Bütikofer schuf gemeinsam mit Anwohnern eine zweiteilige hölzerne Brückenkonstruktion, die die Verbindung symbolisiert. Die Zusammenführung wurde mit Pauken, Trompeten und göttlichem Segen zelebriert.

«Die letzten Tage waren so cool», raunt eine Besucherin im Vortragssaal des Jüdischen Museums in Gailingen ihrer Sitznachbarin zu. «Kein Wunder, dass nun auch so viele Leute hierherkommen.» Die Referate zur Geschichte der Brücke über den Rhein, die Diessenhofen und Gailingen verbindet, bilden den Auftakt für die Präsentation eines aufwändigen künstlerischen Projekts. Drei Tage lange hatte Adrian Bütikofer mit rund drei Dutzend Freiwilligen beidseits des Rheins eine zweiteilige rund zwei Meter hohe und sieben Meter lange Holzkonstruktion gebaut. Holzleisten mussten zugesägt, geschliffen und verschraubt werden. «Dieser Prozess ist ein wichtiger Teil des Projekts» sagt Bütikofer.

«Man lernt sich kennen, wenn man miteinander arbeitet und miteinander Pausen macht. Das hat etwas Friedensstiftendes.» 

Adrian Bütikofer

Das entstandene Objekt jedoch ist auch nicht zu verachten. Die rechts- und linksrheinisch entstandene Hälften werden in einer feierlichen Prozession – begleitet vom Musikverein Gailingen einerseits und der Stadtmusik Diessenhofen andererseits – auf der Brücke zusammengeführt. Das dauert eine Weile. «3,5 Tonnen müssen unsere Helfer von der Feuerwehr erst einmal ziehen», sagt der Gailinger Bürgermeister Thomas Auer.

 

 

Adrian Bütikofer wartet auf die zweite Brückenhälfte. Bild: Inka Grabowsky

Performance mit Pathos

Der evangelische Pfarrer Diessenhofens, Gottfried Spieth, und sein katholischer Amtskollege Claudius Stoffel, Subsidiar in Gailingen, segnen gemeinschaftlich das Kunstwerk. «Es braucht nicht Grenzen, Mauern, Egoismus und America first», predigt Spieth. «Das zeigte 1944 diese Brücke und das zeigt sich heute in Gaza und der Ukraine, wo Kinder leiden. Es braucht die mühseligen Wege zueinander!» Zwei Mädchen, Joy Lier mit Wurzeln in Diessenhofen und Rosalie Auer aus Gailingen, klettern auf das vereinigte Kunstwerk und spannen eine Fahne mit Friedens-Taube auf. Der Bürgermeister und der Stadtpräsident schütteln sich unter dem Brückenboden die Hände. Und dann ist der Augenblick vorbei. Die Teile werden wieder auseinandergeschraubt und auf das ihnen angestammte Ufer geschoben.

 

Stadtpräsident Birk und Bürgermeister Auer demonstrieren die Freundschaft der Gemeinden. Bild: Inka Grabowsky

 

Brücke ist bedeutsam und symbolträchtig

Für den Diessenhofer Stadtpräsidenten Markus Birk ist die partizipative Kunstaktion mehr als ein Gedenkanlass zum Kriegsende vor achtzig Jahren. Der Kulturelle Begegnungstag betone, wie eng die beiden Gemeinden im Alltag zusammenarbeiten.

«Begonnen hat die Zusammenarbeit mit einer intensiven Kooperation zwischen den Feuerwehren der beiden Gemeinden. Sie wurde fortgeführt im Bereich der Wasserversorgung und jüngst für den Bereich der Abwasserreinigung.» Sein deutscher Amtskollege Auer betont: «Gailingen und Diessenhofen verbindet eine enge Freundschaft. Der gemeinsame Bau der Kunstbrücke ist ein Symbol in einer Zeit, in der an vielen anderen Stellen Spaltung und Trennung vorherrscht.» Den Fluss betrachten beide Politiker nicht als Trennlinie, sondern als verbindendes Element. Das betont auch Lucia Angela Cavegn, die Kulturbeauftragte Diessenhofens: «Die Brücke über den Fluss lebt durch uns, sie verbindet uns, sie trägt uns.» In Analogie zum errichteten Brückenmodell meint sie:

«Wir müssen an der Zukunft bauen und eine tragfähige Gesellschaft schaffen.»

Lucia Angela Cavegn

Diessenshofens Kulturbeauftragte Lucia Angela Cavegn hat mit ihrem Team hart für den Kulturellen Begegnungstag gearbeitet. Bild: Inka Grabowsky

Wechselvolle Geschichte

Da der Rheinbrücke so grosse Symbolkraft zugeschrieben wird, ist sie idealer Schauplatz für den Begegnungstag. Die symbolische Bedeutung bekam sie aber nur, weil sie in der Geschichte der Region eine so herausragende Rolle spielt. In ihrer über 700-jährigen Geschichte ist sie immer wieder renoviert oder nach Zerstörung neu aufgebaut worden. Das letzte Mal nach dem amerikanischen Bombenangriff auf Gailingen am 9. November 1944. Bruno Hilpert aus Diessenhofen, der den Angriff als 9-jähiger Schuljunge miterlebt hat, erzählt von den Flugzeugtypen, vom ungläubigen Staunen, als die Bomben fielen, von überall zersprungenen Glasscheiben auch auf Schweizer Seite und von der Angst der Mutter.

 

Aufnahme der 1944 bombardierten Brücke, von Heinrich Waldvogel: «Kleine Chronik des Zweiten Weltkriegs von Diessenhofen aus gesehen»,  Archiv Stadtgemeinde Diessenhofen. 

Hoffnung und Schande im Nationalsozialismus

Auch der Schauplatz für die Vorträge im Jüdischen Museum ist nicht zufällig gewählt. «Ab 1933 wurde die Brücke für viele zur letzten Hoffnung. Jüdische Familien aus dem Hegau flohen vor der Verfolgung in die Schweiz», führt Stadtpräsident Birk aus. Wer in der Schweiz Besitz, ein Unternehmen oder Arbeit hat, konnte legal in die Schweiz einreisen. Ob die Deutschen die Juden allerdings ausreisen liessen, steht auf einem anderen Blatt. 1938 wurde der Grenzverkehr stark eingeschränkt. Die Kontrollen wurden schärfer und nicht mehr durch die vertrauten Zöllner, sondern durch hierher versetzte Norddeutsche durchgeführt. Vor 85 Jahren, am 22. Oktober 1940, wurden die letzten Angehörigen der ehemals sehr lebendigen jüdischen Gemeinde Gailingens deportiert. «Die ‹Sperre Schweiz 1942› führte dann dazu, dass die Schweiz ihre Grenzen für viele verfolgte Menschen schloss», ergänzt Thomas Auer.

 

Gunar Seitz, Mitinitiator und Kurator der Regio Kunstwege, hofft auf die Realisierung vieler Kunstwerke an Hochrhein. Bild: Inka Grabowsky

Ein zweiter und dritter Akt

Die Aufgabe der Kunstwerke ist nach dem Kulturellen Begegnungstag längst nicht erfüllt. «Bevor sie in zwei oder drei Jahren auf einer Sichtachse in Gailingen und Diessenhofen aufgestellt werden, sollen sie auf Tournee gehen», sagt Gunar Seitz, Kurator von Regio Kunstwege. «Wir begehen hier den ersten Akt in der Reihe HochRheinKunst.» Mit Glück - und der Hilfe von Sponsoren - sind die Brückenteile die ersten in einer Ansammlung von Kunstwerken, die von Stein am Rhein bis zur Klosterinsel Rheinau am Ufer entstehen. Sie sollen sich mit der Geschichte des Rheins und den Menschen am Ufer des Flusses auseinandersetzen. «Das Patronatskomitee steht», freut sich Gunar Seitz. Auch den Förderverein «Hochrhein Kunstweg» gibt es bereits. Er soll die notwendigen Gelder zusammentragen. Immerhin sind schon Mittel der EU und kommunaler Träger zugesichert.

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