von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 01.03.2017
Gebt nicht auf!
Der Frauenstreik hat das Thema Gleichberechtigung auch in der Schweiz nochmal neu auf die Agenda gesetzt. Solche Proteste gab es auch schon früher. Die Frage ist: Kann man daraus etwas lernen? Die Historikerin Verena Müller kennt sich da bestens aus: Verena Müller hat im Thurgau für das Frauenstimmrecht gestritten. Wir haben im Februar 2017 mit ihr gesprochen: Über Ungerechtigkeit, die damalige Stimmung im Kanton und die Finessen des Kampfes der Schweizerinnen. Das Interview entstand im Zusammenhang mit dem Film «Die göttliche Ordnung», der 2017 in die Kinos kam. Die Inhalte sind aber auch über diesen Anlass hinaus relevant.
Frau Müller, warum hat es so lange gedauert bis die Schweizerinnen ihr Stimmrecht erkämpft haben?
Das erklärt sich mit der Struktur der schweizerischen Demokratie. In anderen Ländern wurde das Frauenstimmrecht von oben, also von der Regierung aus initiiert und umgesetzt. In der Schweiz dagegen mussten die Männer der Einführung zustimmen und das brauchte ein Umdenken. Nachdem die Führer des Generalstreiks vom November 1918 auch das Frauenstimmrecht gefordert hatten, galt es zudem hierzulande vielen bürgerlichen Männern als linkes Thema. Auch deshalb gab es lange eine grosse Zurückhaltung.
Was war für Sie der Anlass, sich persönlich in die Debatte einzubringen?
Schon im Kindergarten regte ich mich darüber auf, wenn sich Buben für etwas Besseres hielten. Ich empfand das als ungerecht, wahrscheinlich auch, weil ich in einer sehr gleich berechtigten Familie aufgewachsen bin. Meine Mutter war immer berufstätig. In meiner Familie befürworteten Männer wie Frauen das Frauenstimmrecht.
Wie haben Sie damals den Thurgau erlebt?
Ich kam 1966 von aussen in den Kanton und habe eine Stelle als Lehrerin aufgenommen. Es war etwas schwierig. Die Thurgauer waren zwar alle enorm liebenswürdig, aber, wenn ich das so sagen darf, nicht sonderlich progressiv. Ich war das eigentlich gewöhnt, weil ich in Luzern aufgewachsen bin und auch dort die Menschen eher konservativ waren. Aber im Thurgau war dann alles noch eine Spur konservativer. Eine kleine Anekdote von damals zeigt die Stimmungslage im Thurgau ganz gut. Ein früherer Kollege, Geschichtslehrer wie ich, sagte mal zu mir, es sei ja schön, dass sich eine Lehrerin jetzt in die Politik einbrächte, aber ob das unbedingt beim Thema Frauenstimmrecht sein müsse. Das zeigt beispielhaft wie damals viele Menschen dachten.
«Die Thurgauer waren zwar alle enorm liebenswürdig, aber nicht sonderlich progressiv.»
Verena Müller, Historikerin, zum Klima im Thurgau der 1960er Jahre
Wie lief die Debatte über das Stimmrecht im Kanton ab?
„Eile mit Weile" lautet das Motto. Die grosse Petition fürs Frauenstimmrecht von 1928 im Rahmen der Aussstellung über Frauenarbeit SAFFA in Bern unterschrieben 3376 Personen im Thurgau. 1931 beantragte Claire Schibler-Kägi (1902-1965) beim Regierungsrat die Wählbarkeit der Frauen in die Schulbehörden, 1968 kam das Frauenstimmrecht in Schulfragen dann tatsächlich. 1969 führten die reformierten Kirchen die volle Mitbestimmung der Frauen ein, Katholikinnen mussten weitere zwei Jahre warten. 1959 hatten 80 Prozent der Thurgauer Männer das Stimmrecht abgelehnt, 1971 war der Thurgau zwar auch noch unter den sieben ablehnenden Kantonen, doch akzeptierten die pragmatischen Thurgauer im Dezember 1971 das Stimmrecht auf kantonaler Ebene mit einer Zweidrittelsmehrheit. Die Neinsager waren zu Hause geblieben.
Welche Stimmungslage herrschte unter den Frauen damals?
Anna Walder (1894-1986), eine bedeutende Vorkämpferin für die Sache der Frau, organisierte zwischen 1961 und 1979 staatsbürgerliche Kurse für Frauen. Offensichtlich hoffte sie, die Einführung des Stimmrechts noch zu erleben. Interessant war damals, dass sich zugewanderte Frauen dafür engagierten, etwa Ludomila Schweiwiler-von Schreyder (1888-1980), die während Jahrzehnten den Stimmrechtsverein präsidierte. Die Mehrheit der Thurgauerinnen war eher zurückhaltend, Gattinnen prominenter Männer sprachen sich in der Öffentlichkeit energisch dagegen aus. Doch gab es auch mutige Ausnahmen, etwa eine Wirtin, die das „Thurgauer Dornröschen" aus dem Schlaf wecken wollte.
Gab es für Sie einen besonderen Moment in der Zeit?
Das war der Moment als ich am 1. Februar 1971 Radio hörte und es klar war, dass das Stimmrecht kommen würde. Plötzlich stand fest, dass es nicht nur eine Volksmehrheit gab, sondern dass es auch mit dem Ständemehr klappte. Da habe ich vor Freude geheult. Es herrschte danach eine grossartige Stimmung. Die frühen 1970er, das war eine Zeit, in der plötzlich alles möglich schien. Es herrschte der Aufbruchgeist der 1968er, wir hatten alle einen sehr optimistischen Blick auf die Welt. Vieles hatte sich innert kurzer Zeit zum Besseren verändert. Ich war damals überzeugt, dass es jetzt immer weiter bergauf gehen würde. Um das zu verstehen, muss man sich noch mal vergegenwärtigen, dass es ja bereits 1959 eine Abstimmung über das Frauenstimmrecht in der Schweiz gab. Damals lehnten es zwei Drittel der Männer ab und nur 12 Jahre später hatte sich das Bild gedreht und zwei Drittel der Männer waren dafür. Das war schon erstaunlich.
Wenn Sie den Film „Die göttliche Ordnung" jetzt anschauen: Trifft er die damalige Situation?
Ich hatte noch nicht Gelegenheit, den ganzen Film zu sehen. Es ist toll, dass sich ein Film des Themas annimmt. Beim Trailer ist mir allerdings eine Szene aufgefallen, die von England inspiriert ist, aber nicht den typisch schweizerischen Kampf spiegelt. Hierzulande wären keine Fenster eingeschmissen worden, höchstens überklebte man mal im Geheimen keck Plakate. Die Schweizerinnen mussten ja die Männer für sich gewinnen - destruktiven Aktionen wären kontraproduktiv gewesen.
Das heisst, Sie mussten die Männer eher umgarnen?
Umgarnen oder überzeugen? Es gibt da die schöne Geschichte: Fragt man eine Engländerin, wie man das Frauenstimmrecht erreicht, sagt sie: Zerstört Eigentum! Fragt man dasselbe eine Französin, sagt sie: Tragt schöne Hüte! Das macht deutlich, wie jede Protestform zur Mentalität des Landes passen muss. In der Schweiz neigten die Frauen eher zur friedlichen französischen als zur militanten britischen Variante.
Gibt es einen Rat, den Sie Menschen geben können, die sich heute für gesellschaftliche Veränderung einsetzen wollen?
Was mich in der ganzen Debatte bis heute tief beeindruckt, sind die alten Vorkämpferinnen für das Frauenstimmrecht. Nach jedem Rückschlag haben sie hartnäckig weitergemacht, neue Strategien ausgedacht und nie aufgegeben. Diese Art zu handeln, ist mir bis heute ein Vorbild geblieben. Deshalb wäre es wahrscheinlich das, was ich jungen Menschen raten würde: Gebt nicht auf, bleibt am Ball!
Zur PersonDie Historikerin Verena E. Müller (77) war von 1966 bis 1978 Hauptlehrerin für Geschichte und Französisch an der Thurgauischen Kantonsschule Frauenfeld. Als dessen letzte Präsidentin musste sie 1977 den Thurgauischen Frauenstimmrechtsverein auflösen. Sie ist unter anderem Autorin von „Marie Heim-Vögtlin – die erste Schweizer Ärztin (1845-1916)" 4. Auflage 2016 sowie von „Liebe und Vernunft. Lina und Eugen Huber. Porträt einer Ehe" 2016 |
Der Film: «Die göttliche Ordnung» ist der erste Spielfilm über das Schweizer Frauenstimmrecht und dessen späte nationale Einführung 1971. Drehbuchautorin und Regisseurin Petra Volpe («Traumland», Drehbuch von «Heidi») nimmt das Publikum mit auf eine emotionale Reise in die ländliche Schweiz der 70er Jahre und diese bahnbrechende Zeit. Der Film ist siebenmal nominiert für den Schweizer Filmpreis 2017. In den Kategorien: Bester Spielfilm, Bestes Drehbuch,Beste Darstellerin, Bester Darsteller und drei mal für Beste Darstellung in einer Nebenrolle. Mehr zum Film gibt es hier: http://www.goettlicheordnung.ch
Besprechungen:
Das schreibt das St. Galler Magazin Saiten über den Film: http://www.saiten.ch/mit-kopftuch-fuer-das-frauenstimmrecht/
Der Tagesanzeiger aus Zürich über den Film und Schweizer Komödien: http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/kino/breschen-in-die-seriositaet/story/23514512
Die Neue Zürcher Zeitung über den Film und die Solothurner Filmtage: https://www.nzz.ch/feuilleton/52-solothurner-filmtage-in-der-blase-des-wohlgefuehls-ld.142072
Der Trailer zum Film:
Art-TV.ch hat 2014 ein Porträt über Regisseurin Petra Volpe gedreht
Weitere Beiträge von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter
- Auf Kinderaugenhöhe (21.10.2024)
- Was hält uns zusammen? (16.10.2024)
- «Falsch gespart»: Kritik am Sanierungs-Stopp (15.10.2024)
- Die Entdeckung des Raums (11.10.2024)
- Die Zukunft bleibt fern (04.10.2024)
Kommt vor in diesen Ressorts
- Film
Kommt vor in diesen Interessen
- Interview
- Geschichte
Ähnliche Beiträge
«Erzählt Geschichten, die euch am Herzen liegen!»
Noch bis 31. Januar können sich junge Filmemacher:innen für den Movie Day bewerben. Festivalchef Daniel Ziener gibt Tipps, wie das am besten geht. mehr
Aus dem Leben eine Geschichte machen
Der Frauenfelder Regisseur Friedrich Kappeler ist durch seine Film-Porträts bekannt geworden. Jetzt wird sein Gesamtwerk digitalisiert. Ein Gespräch über Nähe, neue Ideen und die Aura des Analogen. mehr
«Das Kino ist immer noch ein magischer Ort»
Den Kinos ging es schon vor Corona schlecht. Und jetzt? Der Frauenfelder Filmemacher Beat Oswald im Gespräch über das Virus und seine Folgen. Für die Filmbranche und die Gesellschaft. mehr