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von Niculin Janett, 10.10.2016

Das mysteriöse Understatement

Das mysteriöse Understatement
Mark Turner | © Thomas Brütsch

Der Amerikaner Mark Turner ist ein stilles Wasser. Stille Wasser gründen aber bekanntlich tief. Dies zeigte sich auch beim Interview im Rahmen des Jazzfestivals Generations16 in Frauenfeld. Wenn man mit Turner spricht, wird einem je länger je mehr bewusst, wie präzise dieser ernste, aber durchaus humorvolle Mann seine Persönlichkeit in seiner Musik zum Ausdruck bringt.

Interview und Übersetzung: Niculin Janett

Herr Turner, Sie unterrichten an der Hochschule für Musik in Basel, geben Masterclasses auf der ganzen Welt. Sie geben also viel Wissen weiter an Studenten. Gibt es Dinge, die Sie selbst lernen, vom Unterrichten und von den Studenten?

Mark TURNER: Nun ja, wenn ich jetzt so spontan antworten muss, dann habe ich das Gefühl, nicht sehr viel. Ich lerne vielleicht etwas durch die Studenten, aber eher nicht von ihnen. Mit „durch" meine ich, dass ich durch das Weitergeben meiner Erfahrungen meine eigenen Gedanken ordnen kann. Ich glaube es gibt Menschen (Lehrer), die selbst viel lernen, vielleicht sind das geselligere Menschen. Ich bin selbst nicht sehr gesellig, deshalb kostet es mich einiges an Energie, unter Studenten zu sein. Unterrichten ist wichtig, und ich will jüngeren Musikern helfen, weiterzukommen. Aber, und ich will dabei nicht negativ klingen, es vermindert mein eigenes musikalisches Level. Nach einer Unterrichts-Periode brauche ich eine Woche, um wieder auf die Höhe meines Könnens zu kommen. Unterrichten ist etwas komplett anderes als Musizieren, finde ich. Es ist einfach eine andere Energie. Es kann sein, dass ich selbst etwas davon lerne. Aber was das ist, ist immer noch etwas mysteriös für mich. Irgend etwas kommt dabei heraus, da bin ich mir sicher. Aber ich bin mir (noch) nicht im Klaren, was genau.


Niculin Janett und Marc Turner treffen sich zu einem langen Gespräch. Bild: zVg

 

Sie sind eine der prägendsten Stimmen auf dem Tenorsaxophon der letzten zwei Jahrzehnte, gelten als grosses Vorbild. Gibt es Musiker, Saxophonisten von heute im Speziellen, die Sie selbst als Inspiration ansehen, und nicht umgekehrt?

Da gibt es definitv welche. Ich wurde und werde inspiriert von Saxophonisten aus meiner eigenen Generation. Und dies, seit ich angefangen habe zu spielen. Das war immer schon so, ist nichts neues. Ich lasse mich natürlich genauso inspirieren von älteren Musikern. Sie sind wohl dafür verantwortlich, dass ich heute das tue, was ich tue. Ich nehme also etwas von allem und jedem da draussen. Zumindest von all jenem, das mir gefällt. Kleine Teilchen und Dinge von meinen Generations-Genossen wie Seamus Blake, Chris Potter, Chris Cheek, Joshua Redman oder Nat Su.

Sie haben mit diesen Musikern studiert, richtig?

Ja, mit einigen war ich zusammen in der Schule. Dazu kommen andere Musiker, die mich als Inspirationsquelle sehen, von denen ich dann aber wieder etwas zurücknehme. Recycling, sozusagen. Musiker wie Ben Van Gelder. Das passiert, wenn man zusammen spielt, wir haben eine ähnliche Ästhetik. Oder da wäre auch Dayna Stephens. Ihn mag ich sehr. Oder Logan Richardson. Vielleicht auch Miguel Zenon. Einige Dinge, die mich inspiriert haben sind musikalischer Natur, manchmal aber auch nur die Art und Weise, wie jemand an etwas arbeitet. Nichts Ästhetisches, einfach eine Art Übetechnik zum Beispiel. Ich übte oft dasselbe über lange Strecken, bei sechs Stunden Übungszeit verbrachte ich vielleicht je drei Stunden mit zwei verschiedenen Dingen. Andere Leute üben in diesen sechs Stunden viele verschiedene Dinge. Diese zwei Methoden führen zu unterschiedlichen Resultaten. Ich probiere vermehrt die Methode mit mehreren verschiedenen Dingen aus. Musiker wie Miguel (Zenon) beschäftigen sich mit vielen Dingen in kurzen Intervallen. Ich schaue mir im Moment an, wie sich das für mich anfühlt.

Können Sie Ihren persönlichen Spielstil beschreiben, Ihre Musik? Was kommt Ihnen da in den Sinn?

Kürzlich hat mich ein Freund gebeten, genau dies in einem Wort zu beschreiben. Das Wort wäre Mysterium. Von da komme ich musikalisch am ehesten her. Ich bin definitiv das Gegenteil von explizit. Andere Beschreibungen wären „Aufmerksamkeit auf Details", oder vielleicht auch „Understatement". Ich würde es so sagen: Mein Spiel enthält die Intensität, Kraft und Romantik in der Art von Apollon, im Gegensatz zu Dionysos. Ich komme eher von der anderen Seite. Schliesslich suche ich dasselbe wie alle anderen Musiker, ich tue es einfach über einen anderen Weg. Vielleicht in etwa wie Bud Powell oder Charlie Parker (eher introvertierte Spieler) im Gegensatz stehen zu dramatischeren Interpreten wie Sonny Rollins oder Ornette Coleman. Oder Bach (gemässigt) gegenüber Beethoven (dramatisch).

Haben Sie eine andere Herangehensweise beim Interpretieren von Jazz-Standards als beim Spielen von eigenen Werken?

Grundsätzlich nein. Im Detail dann aber vielleicht schon. Das Vokabular, das ich benutze, ist anders. Ich möchte die grundsätzliche Gestaltung einer Improvisation gleich haben, egal in welchem Stil sie sich bewegen mag. In meinen Augen entfaltet sich moderne Musik öfter mit etwas zu viel Drama. Mehr Drama als es die alten Meister der Jazzmusik gewollt hätten. Und ich versuche, mich daran zu orientieren, was diese Meister getan haben. Soweit ich das zu verstehen mag. Ich möchte die Musik so gestalten, wie sie sie gestaltet hätten, einfach mit dem Vokabular und den Informationen, welche uns heute zur Verfügung stehen. Was wiederum genährt wird von der Musik aus der Vergangenheit. Auch wenn das Stück nun nicht die standartisierten Harmonien oder den gewohnten Rhythmus hat, ist meine Herangehensweise immer die gleiche. Nun, diese beiden Seiten sind sich ähnlich und doch unterschiedlich. Die Intensität meines Spiels kommt immer vom gleichen Ursprung, der Aufmerksamkeit auf Details, Rhythmus, präzise Stimmführungen und sorgfältig gewählte Noten. Ohne Drama. Wenn ich „Drama" sage, dann meine ich damit, dass die Musik zu laut werden kann oder mehr enthält, als sie eigentlich nötig hätte. Für mich haben alle Stücke, egal ob Standard oder Eigenkomposition, die sprachliche Herkunft im Bebop, sollten also mit einer bestimmten Coolness und Ruhe gespielt werden. Und so ist auch meine Herangehensweise an jedes Stück.

Sie haben auch mit vielen europäischen Musikern gearbeitet. Gibt es für Sie Unterschiede zwischen der „europäischen" und der „amerikanischen" Art und Weise, Jazz zu spielen?

Nun, es gibt eine bestimmte Gruppe von Musikern heute, bei denen die Nationalität stilistisch keine Rolle spielt. Weil wir alle grundsätzlich vom New Yorker Nexus (Verknüpfung, Anm. d. Red.) herkommen. Es gibt eine Menge europäischer Jazzmusiker in New York, es kommen also viele stilistisch vom selben Ort. Und da sind die Unterschiede auch sehr klein. Ausserhalb davon ist es etwas anders. Es kommt sehr darauf an, wo man sich befindet. Und auf den Zeitraum. Früher, in den 50ern und 60ern, war der Unterschied zwischen Europa und Amerika kleiner, als viele Amerikaner nach Europa kamen und die hiesigen Musiker beeinflussten. Zum Beispiel der Dänische Bassist Nils-Henning Ørsted Pedersen. Danach wurden die Unterschiede wieder grösser. Jetzt kommen sich die beiden Kontinente stilistisch wieder näher. Gleich ist es jedoch nicht. Als New Yorker tendiert man aber auch dazu, alles ausserhalb als „anders" zu betrachten (lacht).

 



Mark Turner Quartet - Lathe of Heaven

 

Ein Unterschied, der mir früher aufgefallen ist, ist der, dass es schwierig war, gute Schlagzeuger zu finden in Europa. Ich suche nach einer gewissen Kenntnis von Rhythmus, Swing und dem Verständnis für die musikalische Sprache der Jazztradition, und früher war es zeitweise schwierig, das hier zu bekommen - in gewissen Ländern schwieriger als in anderen. Jetzt ist es viel besser. Heute gibt es den viel einfacheren Zugang zu dieser Musik, dank des Internets. Man hat mehr Parameter, wovon man lernen kann. Heute gibt es hier mittlerweile erstaunlich viele tolle Musiker (Schlagzeuger) unter dreissig. Der europäische Stil hat die Tendenz, weniger auf Rhythmus und Groove konzentriert zu sein. Man könnte sagen, mehr von der Hüfte aufwärts. Es geht weniger darum, was da unten passiert (zeigt auf Beine und Füsse). Harmonie, Melodie und Form sind tendenziell wichtiger. Das soll keine Kritik sein, es ist eine Beobachtung, die ich in den Jahren gemacht habe. Westeuropäische Musik, klassische Musik, konzentriert sich auf Polyphonie und komplexe Form, Rhythmus ist eher da als Unterstützung, nicht als ein solch zentraler Part wei bei der Musik von den „Americas", wo das genau umgekehrt ist.

Warum ist gerade Jazz die Musik, durch die Sie sich auszudrücken suchen?

Erst einmal einfach, weil ich dieser Musik von Beginn an ausgesetzt war. Ich könnte mich selbst auch als klassischen Klarinettisten sehen, wenn ich früher mehr klassischer Musik begegnet wäre. Ich hätte das gerne gemacht. Ich kam zum Jazz, weil meine Eltern viele Jazzalben hatten, sie waren Jazzfans. Abgesehen davon fordert mich Jazz enorm heraus. Es verlangt alle Dinge, die schwierig sind für mich. Ich mag das. Man muss spontan sein. Jazz widerspiegelt das Leben auf verschiedene Weisen. Man muss spontan sein, und diese Spontaneität wird genährt davon, wie man sich auf die Situation vorbereitet. Und das ist, was Jazz so fantastisch macht. Man kann sich darauf vorbereiten und bestimmte Dinge üben, die Situation ist am Ende aber doch immer anders. Man hat einen Auftritt und erinnert sich danach an Momente, die man nächstes mal anders haben möchte. Man trainiert sich dann darin, Körper und Geist, diese gleiche Situation beim nächsten Mal anders zu handhaben. Man tut das wieder und wieder und kommt jedes Mal etwas näher. Und weiter geht's.

Es ist nicht linear. Klassische Musik ist eher linear. Man spielt da und dort einen falschen Ton, oder möchte seinen Klang verbessern. Man korrigiert sich beim nächsten Versuch. Die Musik wird aber immer noch gleich sein, nur die Vorbereitung und die Ausführung des Musikers sind anders. Das Resultat ist fast das gleiche, einfach verbessert. Wenn man sich gut vorbereitet in der klassischen Musik, dann kriegt man es auch richtig hin, und das ist es dann. Jazz ist da anders. Vielleicht spielt man immer wieder die gleichen Stücke, aber alles andere drumherum ist jedes mal anders. Andere Musiker, ein anderer Raum. Die Variablen gleichen viel mehr dem richtigen Leben. Wenn man es nun schafft zu sehen, was sich ändern soll beim nächsten mal, dann kann man sich darauf vorbereiten und es besser machen, trotzdem wird es nie die gleiche, perfekte Version dessen werden, was man früher gespielt hat. Und das ist der Shit am Jazz.

Haben Sie ein Lieblingsalbum unter ihren eigenen Aufnahmen?

Da gibt es wohl zwei. Einerseits das letzte, welches ich aufgenommen habe, „Lathe of Heaven". Andererseits „Dharma Days". Was auch immer bei diesen Aufnahmen passiert, ich kann dazu stehen und sagen, „es ist in Ordnung so". Diese beiden Alben sind am nähesten dort, wo ich mich selber befinde und zeigen gleichzeitig am besten, woher ich komme.

markturnerjazz.com

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