von Barbara Camenzind, 12.02.2018
Im Bann des Tunnel-Molochs
„Alles fliesst“ sagte Heraklit. Danach handelte auch das Glauser Quintett, das von fünf auf vier schrumpfte und statt des poetischen Fremdenlegionärs mit einem Text von Zora del Buono in ihre neue literarisch-musikalische Konzertreihe stieg. Besser gesagt, eindrang. Das dichte, sinnlich-leichtfüssige Wort-Klang-Tunnelgrossbaustelle „Gotthard“ ist ein Hörabenteuer der besonderen Art. Wir sind am vergangenen Freitag im Frauenfelder Eisenwerk mit auf Entdeckungsreise gegangen in den grössten Stollen der Bahnbaugeschichte.
Akkurat wie ein Bauführer setzte Sprecher Markus Keller die Zeiten für die Protagonistinnen und Protagonisten. Um 7.30 Uhr war Trainspotter Bergundthals Auftritt. Er war die etwas brötig-unsinnliche Gegenfigur zu Womanizer Filz, der im Stollen an den Wänden nur noch Schenkel, Brüste, und Allzuweibliches sah. Frauen? Der eine wollte keine. Der andere: Bitte mehr als eine, und die nicht zu nah. Zu dumm nur, dass die heilige Barbara verschwunden war. Gestohlen. Ein böses Omen für Tunnelbauer. Es war deutlich zu spüren, dass die Autorin del Buono auch als Architektin arbeitet. Sätze wie aus Stein gemeisselt, turmhohe Wortkaskaden, die jedoch nie das Gleichgewicht verloren, in den Spannungsfeldern, in denen sie sich bewegten. Sprecher Keller war ihr sensibler, kraftvoller Tongeber, der die weissen Figürchen auf dem schwarzen Grund wie Schachfiguren bewegte. Die Musik war der Berg. Ganz Gneis, mal Granit, mal Sandstein, dann wieder ölig schiefrig. Komponist Daniel R.Schneider verwob die Geschichte zu einer ureigenen „Klangsteinstory“, mal illustrierend, mal wegweisend, jedoch immer achtsam gegenüber dem gesprochenen Wort.
Schwarzhumorige Abgründe
Überhaupt war die Text-Musik-Verdichtung das Eindrücklichste an diesem Abend im Eisenwerk. Minimal Music, Blues und Experimentelles gaben sich die Hand, wenn Martin Schumacher von der Klarinette, zum Akkordeon und dem Baritonsax wechselte, oder Perkussionist Fredi Flükiger durch seine Geräuscheküche klapperte. Da und dort blinzelte auch Tessiner Musik durch die Rauchschwaden des Südportals und erinnerte an eine bluesige Fortsetzungsgeschichte des ORF-Hörspiels „Das Wirtshaus zur Hand des Gehenkten“, von Bernhard Kathan und Manuela Kerer.
Skurril genug dafür ist „Gotthard“ allemal. Die abartigen Temperaturunterschiede, die den Arbeitern zu schaffen machten, die Veränderungen der Landschaft durch den Tunnelbau, die Einsamkeit, das Altern, die Lebensfreude und die Puffs der Leventina: Saftig, deftig, aber niemals billig wand sich die Geschichte durch immer absurdere Verbindungsgänge, von Fräse Gabi 1 zur ehemaligen Kantinenwirtin, ihrem Mann Aldo und der Hure Monika im „Alabama“. Die Parallelgeschichten vernetzten sich zu einer grossartig orchestrierten Story über das Leben und dem Tod vor und im Tunnel. Die heilige Barbara wurde übrigens wieder gefunden. Nur wo, sei nicht verraten. Es lohnt sich allemal, sich mit dem Glauser Quintett in den Stollen zu begeben.
Nächste Aufführungen:
Mittwoch 28. Februar, 20 Uhr, Villa Sträuli, Winterthur,
Freitag 9. März, 20.30 Uhr, Kreuzkultur, Solothurn,
Samstag 10. März, 17.15 Uhr, Theaterhaus Thurgau, Weinfelden
Mehr im Internet: www.glauser-quintett.ch
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