Seite vorlesen

von Barbara Camenzind, 12.02.2018

Im Bann des Tunnel-Molochs

Im Bann des Tunnel-Molochs
Poesie aus dem Eisenbahntunnel: Glauserquintett in neuer Formation | © Andrin Winteler

„Alles fliesst“ sagte Heraklit. Danach handelte auch das Glauser Quintett, das von fünf auf vier schrumpfte und statt des poetischen Fremdenlegionärs mit einem Text von Zora del Buono in ihre neue literarisch-musikalische Konzertreihe stieg. Besser gesagt, eindrang. Das dichte, sinnlich-leichtfüssige Wort-Klang-Tunnelgrossbaustelle „Gotthard“ ist ein Hörabenteuer der besonderen Art. Wir sind am vergangenen Freitag im Frauenfelder Eisenwerk mit auf Entdeckungsreise gegangen in den grössten Stollen der Bahnbaugeschichte.

Von Barbara Camenzind

Akkurat wie ein Bauführer setzte Sprecher Markus Keller die Zeiten für die Protagonistinnen und Protagonisten. Um 7.30 Uhr war Trainspotter Bergundthals Auftritt. Er war die etwas brötig-unsinnliche Gegenfigur zu Womanizer Filz, der im Stollen an den Wänden nur noch Schenkel, Brüste, und Allzuweibliches sah. Frauen? Der eine wollte keine. Der andere: Bitte mehr als eine, und die nicht zu nah. Zu dumm nur, dass die heilige Barbara verschwunden war. Gestohlen. Ein böses Omen für Tunnelbauer. Es war deutlich zu spüren, dass die Autorin del Buono auch als Architektin arbeitet. Sätze wie aus Stein gemeisselt, turmhohe Wortkaskaden, die jedoch nie das Gleichgewicht verloren, in den Spannungsfeldern, in denen sie sich bewegten. Sprecher Keller war ihr sensibler, kraftvoller Tongeber, der die weissen Figürchen auf dem schwarzen Grund wie Schachfiguren bewegte. Die Musik war der Berg. Ganz Gneis, mal Granit, mal Sandstein, dann wieder ölig schiefrig. Komponist Daniel R.Schneider verwob die Geschichte zu einer ureigenen „Klangsteinstory“, mal illustrierend, mal wegweisend, jedoch immer achtsam gegenüber dem gesprochenen Wort.

Schwarzhumorige Abgründe

Überhaupt war die Text-Musik-Verdichtung das Eindrücklichste an diesem Abend im Eisenwerk. Minimal Music, Blues und Experimentelles gaben sich die Hand, wenn Martin Schumacher von der Klarinette, zum Akkordeon und dem Baritonsax wechselte, oder Perkussionist Fredi Flükiger durch seine Geräuscheküche klapperte. Da und dort blinzelte auch Tessiner Musik durch die Rauchschwaden des Südportals und erinnerte an eine bluesige Fortsetzungsgeschichte des ORF-Hörspiels „Das Wirtshaus zur Hand des Gehenkten“, von Bernhard Kathan und Manuela Kerer.

Skurril genug dafür ist „Gotthard“ allemal. Die abartigen Temperaturunterschiede, die den Arbeitern zu schaffen machten, die Veränderungen der Landschaft durch den Tunnelbau, die Einsamkeit, das Altern, die Lebensfreude und die Puffs der Leventina: Saftig, deftig, aber niemals billig wand sich die Geschichte durch immer absurdere Verbindungsgänge, von Fräse Gabi 1 zur ehemaligen Kantinenwirtin, ihrem Mann Aldo und der Hure Monika im „Alabama“.  Die Parallelgeschichten vernetzten sich zu einer grossartig orchestrierten Story über das Leben und dem Tod vor und im Tunnel. Die heilige Barbara wurde übrigens wieder gefunden. Nur wo, sei nicht verraten. Es lohnt sich allemal, sich mit dem Glauser Quintett in den Stollen zu begeben.

Nächste Aufführungen:

Mittwoch 28. Februar, 20 Uhr, Villa Sträuli, Winterthur, 
Freitag 9. März, 20.30 Uhr, Kreuzkultur, Solothurn, 
Samstag 10. März, 17.15 Uhr, Theaterhaus Thurgau, Weinfelden 

Mehr im Internet: www.glauser-quintett.ch 

 

Kommentare werden geladen...

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Musik

Kommt vor in diesen Interessen

  • Kritik
  • Jazz
  • Blues

Werbung

Hinter den Kulissen von thurgaukultur.ch

Redaktionsleiter Michael Lünstroth spricht im Startist-Podcast von Stephan Militz über seine Arbeit bei thurgaukultur.ch und die Lage der Kultur im Thurgau. Jetzt reinhören!

#Kultursplitter - Agenda-Tipps aus dem Kulturpool

Auswärts unterwegs im April/Mai - kuratierte Agenda-Tipps aus Basel, Bern, Liechtenstein, St.Gallen, Winterthur, Luzern, Zug und dem Aargau.

Austauschtreffen igKultur Ost

Für eine starke Kulturstimme im Kanton Thurgau! Dienstag, 11. Juni 2024, 18.00 Uhr, Kult-X Kreuzlingen.

Literaturpreis «Das zweite Buch» 2024

Die Marianne und Curt Dienemann Stiftung Luzern schreibt zum siebten Mal den Dienemann-Literaturpreis für deutschsprachige Autorinnen und Autoren in der Schweiz aus. Eingabefrist: 30. April 2024

Atelierstipendium Belgrad 2025/2026

Bewerbungsdauer: 1.-30. April 2024 über die digitale Gesuchsplattform der Kulturstiftung Thurgau.

Ähnliche Beiträge

Musik

Niculin Janett: Zwischen Komposition und Improvisation

Der aus dem Thurgau stammende Jazzmusiker lebt inzwischen in Zürich. arttv.ch hat ihn in seinem Studio für ein Videoporträt besucht. mehr

Musik

Machen statt labern

Vor zwei Jahren hat Stephan Militz das Kreuzlinger Kulturzentrum Kult-X im Streit verlassen. Jetzt hat er viele neue Ideen, um die Thurgauer Kulturlandschaft zu bereichern. mehr

Musik

Dem Alltag entfliehen

Mit bekannten Namen und literarischen Experimenten: Das Jahresprogramm des Klosters Fischingen bietet Raum für Entdeckungen. mehr