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von Maria Schorpp, 19.03.2017

Die Geheimnisse der Juroren

Die Geheimnisse der Juroren
Einer der einflussreichsten Männer der Schweizer Literaturszene: Dominik Müller, Jury-Präsident des Schweizer Literaturpreises, stellte sich im Bodmanhaus Gottlieben den Fragen des Publikums. | © Veranstalter

Wie macht man das – jedes Jahr aus so vielen Büchern die besten auswählen? Was sind die Kriterien? Dominik Müller, Jury-Präsident des Schweizer Literaturpreises, war jetzt im Bodmanhaus Gottlieben zu Gast, plauderte aus dem Nähkästchen und konterte vor allem mit der Frage: Was ist Literatur?

Von Maria Schorpp

Eigentlich sind es nur die Blesshühner, die ihm bekannt vorkommen. Genau gesagt: die Sprache der Blesshühner. Schließlich handelt es sich bei dem Besucher Gottliebens um den Jury-Präsidenten des Schweizer Literaturpreises. Angesichts der „Zwiebeltürme" der altehrwürdigen Drachenburg glaubt er fast, er sei in Moskau. Damit hatte Dominik Müller bereits eines der Themen gesetzt, das sich als roter Faden durch das Gespräch zog: die „grandiose Vielseitigkeit des Landes".

Der Gast von Kathrin Zellweger war eigens aus Genf, „aus dem anderen Ende der Schweiz", angereist, um im Bodman-Literaturhaus mit der Co-Programmleiterin über die Arbeit eines Jurors zu sprechen. Dominik Müller ist seit 2012, dem Bestehen des Schweizer Literaturpreises, Chef des neunköpfigen Jury-Teams, das alle Jahre wieder nicht unerheblich über den Erfolg von Büchern entscheidet. Ein faszinierender Job – für den Literaturwissenschaftler selbst, dessen Herz für die neuere deutsche Literatur und insbesondere Schweizer Literatur schlägt, wie ihn Kathrin Zellweger einführte. Aber auch das literaturerfahrene Publikum im Bodman-Haus war nicht wenig beeindruckt. „Wie machen Sie das?", war die explizit wie implizit wohl am häufigsten gestellte Frage des Abends.

180 Titel wurden allein für den Schweizer Literaturpreis 2017 eingereicht

Allein für die Vergabe des Schweizer Literaturpreises 2017 waren über 180 Titel eingereicht worden, die es zu lesen galt. Nicht alle von allen, dennoch bleibt für jeden genug. Auf die Frage, ob er noch Zeit für selbstgewählte Lektüre habe, antwortete Dominik Müller damit, dass er auch noch Literaturdozent an der Universität Genf sei. Also nein. Und schob halb im Spass, halb im Ernst noch hinterher, er werde demnächst sein Amt in der Jury aufgeben, um endlich wieder Dostojewski lesen zu können. Was jedoch nicht heissen sollte, dass ihm das Lesen einheimischer Literatur nun zu viel geworden wäre. Dominik Müller bevorzugt offensichtlich eher die leisen, aber umso mehr nachhallenden Töne, wenn es um die Schweizer Literatur geht.

Wie er eingangs auf die Bitte nach Anekdoten von Irena Brežná erzählte – mit ihrem Roman „Die undankbare Fremde" eine der ersten Ausgezeichneten des Schweizer Literaturpreises –, war nicht allein die Liebe zur Schweizer Literatur herauszuhören. Die als Jugendliche aus der ehemaligen Tschechoslowakei eingewanderte Schriftstellerin, die in ihrem preisgekrönten Roman von einer widerborstigen jungen Frau erzählt, habe in ihrer Dankesrede gesagt, jetzt sei sie in dem Land angekommen. Ein Literaturpreis mit integrativer Kraft, auch das ist ihm wichtig.

Zwischen Mittelmassdenken und Exzellenz

Dass durchaus beobachtet wird, welche der vier Sprachgruppen wie mit dem Literaturpreis bedacht wird, bewies ein Beitrag aus dem Publikum, der genau angeben konnte, welche Sprache wie viele Anteile vom Preis 2017 abbekam. Ein andere Stimme sah es anders: Ob es nicht „schweizerisches Mittelmassdenken" sei, dass es jedes Jahr bis zu sieben dieser Literaturpreise gebe (plus Schweizer Grand Prix Literatur und Spezialpreis) anstatt einen für absolute Exzellenz. Mitnichten. Das entspreche dem Land und seiner Mehrsprachigkeit, konterte Dominik Müller: „Es sind exzellente Bücher, die wir auszeichnen."

Ob es Romane einfacher hätten als zum Beispiel Lyrik – eine weitere Frage. Auch das bestritt der Juror. Das Jury-Team versuche, „die Grade der Zugänglichkeit zu mischen". Wie soll man auch einen Krimi mit einem Lyrikband vergleichen? Apropos Lyrik: 2014 ging der Schweizer Grand Prix Literatur an den in der Provence lebende Lyriker Philippe Jaccottet. Um ihn zur Preisverleihung nach Bern zu bringen, wollten die Veranstalter, ihm zu Ehren, eine schwarze Limousine schicken. Damit hatten sie jedoch die Rechnung ohne die Ängste eines zurückgezogen lebenden Sprachkünstlers gemacht: Beim Gedanken, sich die gesamte Fahrt über mit dem Fahrer unterhalten zu müssen, sagte Jaccottet lieber ab.

Müllers Anekdoten aus der Branche sind beste Unterhaltung

Dominik Müller könnte mit seinen Anekdoten ohne Zweifel mehr als einen Abend lang beste Unterhaltung bieten. Kathrin Zellweger wollte es aber auch konkret: Was sind die Kriterien, nach denen die Jury die Bücher auszeichnet? Was ist Literatur?, fragte Dominik Müller dagegen. Es gebe viele Antworten darauf, aber eben auch einen gewissen „kulturellen Konsens". Zwar stünde den Juroren kein objektives Raster, aber Expertise zur Verfügung. „Mit diesem Dazwischen muss man leben", sagte er.

Kritisches kam zur Sprache, ob es in der Schweiz zu viele Literaturpreise gebe, ob von den Gesamtkosten für die Preise auch eine ausreichende Summe bei den Preisträgern ankomme. Dominik Müller parierte, nicht zuletzt auch mit der Begeisterung für seine Arbeit. „Ich lasse mich in ein Buch reinziehen wie ein Kind", sagte er. Vielleicht ist das ein Teil dieser Expertise: Dies immer wieder zulassen zu können.

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