von Luisa Aeberhard, 27.03.2017
Bühne frei für junge Dichter

Wer hat den besten Text geschrieben? – Darüber entschied die Jury des diesjährigen «Junge Texte Festivals» am Freitag in Frauenfeld. Am Ende war es ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Von Luisa Aeberhard
«Jetzt ist es endlich still. Finsternis umfällt mich, befreiende Finsternis.» Elia Stucki sitzt am Lesepult auf der Bühne der Frauenfelder Kanti-Aula. Er faltet seinen Text, hebt den Blick – das Publikum applaudiert, die Jury steckt die Köpfe zusammen. Der 17-jährige Gymnasiast gehört zu den zwölf Preisträgerinnen und Preisträgern von «Junge Texte», dem Thurgauer Literaturförderpreis. Der Schreibwettbewerb geht bereits in die vierte Runde. Er wird getragen von der Lions-Bewegung Thurgau und der Kantonsschule Frauenfeld.
Insgesamt 66 Jugendliche und junge Erwachsene (2015 waren es lediglich 40) hatten ihr Glück versucht und Beiträge eingesandt. Aber nur zwölf erhalten jeweils die Chance, im Rahmen eines Festivals ihre Geschichten den Jurymitgliedern und dem Publikum vorzutragen. Die zwölf Jungliteraten treten jeweils zu Dritt in vier Lesungen auf. Die Jury wählt aus jeder Gruppe einen Finalisten und kürt den Gewinner. Alle zwölf Preisträgerinnen und Preisträger dürfen an zwei Schreibwochenenden teilnehmen, die von professionellen Schriftstellern geleitet werden. Die entstandenen Texte werden in der Anthologie «Schreibraum 4» publiziert.
Elia Stuckis «Seelen» – eine Geschichte über einen Soldaten, der die Angst schon lange aufgegeben hat – kommt bei der Jury gut an. «Der Text hat mich vom Anfang bis zum Schluss überzeugt», sagt Gerda Wurzenberger, Kulturwissenschafterin, Lektorin und Leiterin des Jugendliteraturlabors (Jull). Laura De Weck, Bühnenautorin, Schauspielerin und Regisseurin, gefällt die dramaturgische Wendung: Anfangs wird der Ich-Erzähler von Seelen verfolgt, später wird er selbst zur Seele. Der Geschichts- und Deutschlehrer Goran Vulovic, bekannt auch als Rapper «Milchmaa», vergleicht Stuckis Schreibstil mit demjenigen Remarques («Im Westen nichts Neues»). Im Publikum flüstert eine Kantischülerin: «Ah, dieses Buch sollte ich endlich mal lesen!»
"Frauen schreiben über Gefühle, Männer über Krieg"
Elia Stucki ist mit Isabelle Cao und David Menzi in einer Gruppe. Menzi und Stucki sind die einzigen Wettbewerbsteilnehmer – die Schreiberinnen sind in der Überzahl. Menzis Text handelt ebenfalls von einem Soldaten: «Ich tat nur meine Pflicht, am Tod dieser Menschen trug ich keine Schuld.» Die Jungautoren berichten so authentisch über den Krieg, als wären sie selbst dabei gewesen, als sässen sie selbst in diesen Schützengräben. Ruth Schweikert, Jurymitglied und Schweizer Schriftstellerin, meint: «Literatur ist immer Behauptung. Wir behaupten etwas, was wir eigentlich nicht beurteilen können.» Krieg, Liebe, Schuld und Tod sind unter anderem Themen, welche die Schreibenden beschäftigen. Der Fernsehmoderator Kurt Aeschbacher, der ebenfalls in der Jury sitzt, stellt fest: «Frauen schreiben über Gefühle, Männer über den Krieg.»
«Gäbe es Kriege?», fragt Jungliteratin Saskia Nützi in ihrem Text mit dem Titel «Was ist Liebe?» und schaut dabei ins Publikum. Nützi spielt mit ihrer Stimme: «Liebe ist verdammt schwer!», sagt sie laut und bestimmt. Sie fährt zynisch fort: «Mein Leben ist ein Theater, mein Lächeln eine Maske.» Nützi findet es schade, dass die Jury nur die Textinhalte bewertet. Sie dachte, die Performance würde auch berücksichtigt werden. Auch Fiona Huschbacht ist darüber ein bisschen enttäuscht. Sie habe sich zu Hause gut vorbereitet, ihren Text mehrmals vorgetragen. «Ich erhielt durchgehend positive Kritik von der Jury», sagt die 20-Jährige. Für den Final hat es dennoch nicht gereicht.
Die Jury tut sich schwer mit der Entscheidung
Elia Stucki, Amara Cespedes, Aysenur Erhan und Fiona Boller haben es in den Final geschafft und lesen ihre Texte nochmals vor. «Jetzt geht es um die Krone», sagt Pascale Chenevard, die zum Junge-Texte-Organisationsteam gehört. Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen: Die Geschichten berühren, lassen einen emotionale Welten betreten, geben viel Raum für Interpretationen. Erhan erhält von einigen Jurymitgliedern viel Lob für ihre Formulierungen (Kurt Aeschbacher wirft ihr gar einen Luftkuss zu), Stucki fasziniert mit seinem lyrischen Stil, Boller mit ihrer wortreichen Sprache und Cespedes mit feinen Details. Doch welcher Text überzeugt am meisten?
Die Entscheider (von links): Kurt Aeschbacher, Ruth Schweikert, Laura De Weck, Goran Vulovic, Gerda Wurzenberger und Uwe Schuran bilden die Jury. Bild: Luisa Aeberhard
Die Jury tut sich schwer mit der Entscheidung und lässt das Publikum für einige Minuten warten. Schliesslich gewinnt die Geschichte von Amara Cespedes. Da ist diese Ich-Erzählerin – oder ist es ein Erzähler? –, die von Albträumen heimgesucht wird. Sie befahl ihrem Bruder, den weggekickten Ball zu holen. Aber war es nicht sie, die beim Freistoss danebengeschossen hatte? Hätte sie ihren Bruder nicht losgeschickt, wären die Minen nicht hochgegangen und ihr Bruder wäre noch am Leben. Die 16-jährige Gymnasiastin behandelt in ihrem Text «Wenn die Rotkehlchen verstummen» grundlegende Fragen des Menschseins: Wann werde ich schuldig? Wie gehe ich um mit meiner Schuld? Und wie geht das Leben weiter, wenn ich schuldig geworden bin?
Die diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträger
Amara Cespedes (Siegerin), Aysenur Erhan (Finalistin), Fiona Boller (Finalistin), Elia Stucki (Finalist), David Menzi, Isabelle Cao, Lara Jörgl, Joëlle Puga, Fiona Huschbacht, Djamelia Haas, Saskia Nützi und Josefine Flury.
Weiterlesen: Was die Gewinnerin Amara Cespedes und fünf weitere junge Talente über das Schreiben, ihre Hoffnungen und ihre Zukunft denken, können Sie hier lesen
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