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von Christian Brühwiler, 18.05.2014

Lust und Last der Ü-Kültür

Lust und Last der Ü-Kültür
Jordi Savall tritt in der Klosterkirche Münsterlingen mit Hespèrion XXI auf. | © David Ignaszewski

Christian Brühwiler

Es ist mittlerweile im vollen Gang, das „Türkkültürü“-Programm des internationalen Bodenseefestivals. Das foederalistisch strukturierte Festival, das 1989 vom SWF und den Städten Konstanz und Friedrichshafen erstmals durchgeführt wurde, ist über die Jahre stets gewachsen. Angeboten werden dieses Jahr über 80 Veranstaltungen an knapp zwei Dutzend Orten, klassische Musik ist traditionellerweise der Schwerpunkt, aber auch zahlreiche Veranstaltungen aus anderen Sparten wie Literatur, Theater, Tanz und Film finden sich im Angebot.

Die Fülle ist nicht nur Lust, sondern wohl auch Last des Bodenseefestivals, das seit Jahren als etwas schwerfälliger kultureller Gemischtwarenladen und in der aktuellen Ausgabe als orientalischer Basar daherkommt. Diese Vielfalt will die Festivalleitung schon seit vielen Jahren thematisch bündeln, in den Anfängen mit Länderschwerpunkten und seit etlichen Jahren mit der Wahl eines „Artist in Residence“.


Erstmals aussereuropäisch geöffnet

Mit dem Pianisten und Komponisten Fazil Say und dem Thema „Türkkültürü“ öffnet sich das Bodenseefestival erstmals einem aussereuropäischen Kulturraum. Das erscheint einerseits mutig und innovativ, andererseits aber auch etwas zaghaft, denn Fazil Say repräsentiert wenig genuin türkische, jedoch viel globalisierte, westliche Hochkultur. In Fazil Say sehen wir unsere Wertvorstellungen bestätigt und gespiegelt. In seiner Istanbul-Symphonie beispielsweise, die in Friedrichshafen zu hören war, integriert er traditionelle Themen und Instrumente in einen symphonischen Rahmen und macht sie so auch für westliche Ohren leichter konsumierbar, was durchaus reizvoll und inspirierend sein kann.


Wenig authentisch

Sandra Sinsch, die deutsche, in Istanbul lebende Barockoboistin, die mit dem Alla Turca Kollektif Istanbul in Kreuzlingen und Romanshorn konzertierte, merkte an, dass sich im Bodenseefestival zwar viele interessante Veranstaltungen zum Thema Türkei finden, sich aber nur ganz wenige authentischer türkischer Kultur widmen. Deren Vielfalt und Besonderheit komme in den Crossoverprojekten kaum zur Geltung. Dies treffe beispielsweise auch auf das bekannte Istanbul-Programm des von ihr hoch geschätzten Gambisten und Dirigenten Jordi Savall zu, das wenig mit traditioneller türkischer Musik gemein habe.


Anregend, zum Teil aufblähend

Aus dieser Perspektive wirkt das „Türkkültürü“- Programm wie beispielsweise ein Bachfest, an dem Gesangsgruppen im Stil der Swingle Singers und Jaques Loussier-Playbach-Trios lauter gut gemachte, virtuose Adaptationen zum Besten geben. Wie würden wir dies finden? Viele würden wohl zu Recht die Nase rümpfen. Anregend bleibt die Vielfalt des Bodenseefestival allemal, auch wenn viele Veranstaltungen, die wenig bis gar nichts mit dem Festivalthema zu tun haben, das Programm unnötig aufblähen und verwässern.


Die Schweizer Seite

Auf Schweizer Seite hat sich das Bodenseefestival nie vergleichbar etablieren können wie auf der deutschen Seite. Vor Jahren unterstützten die Kantone Thurgau und St. Gallen die Teilnahme am Bodenseefestival aktiver. Der Kanton St. Gallen liess beispielsweise sogar Plakate mit allen Veranstaltungen drucken, die im Kanton stattfanden. Heute beschränkt sich der Kanton Thurgau auf die Unterstützung lokaler Veranstalter, die jedoch selbst aktiv werden müssen. Inhaltlich bieten die Aktivitäten, die im Thurgau und im Kanton St. Gallen stattfinden, ein recht typisches Abbild des heterogenen Gesamtprogramms.


Höchstes Niveau

In Münsterlingen finden kammermusikalische Anlässe auf höchstem Niveau statt, etwa mit den Stars Fazil Say, Patricia Kopatchinskaja und Jordi Savall mit Hespèrion XXI oder mit dem Merel Quartett. In Kreuzlingen und Romanshorn gastierte das Alla Turca Kollektif, das aufgrund von historischen Quellen den Beziehungen von barocker westlicher Musik zur Musik aus der Hochblüte des osmanischen Reiches nachspürte. Eine ähnliche Veranstaltung in der Stiftsbibliothek St. Gallen thematisierte die gemeinsamen Wurzeln von Christentum und Islam in mittelalterlichen Handschriften, und weitere Veranstaltungen in Romanshorn, Arbon und St. Gallen bewegen sich ausserhalb des thematischen Schwerpunktes.


Potenzial besser nutzen!

Das Abseitsstehen der Schweizer Seite mag verschiedene Gründe haben. Es ist zum einen eine Frage der Ressourcen. In den kleineren Schweizer Gemeinden und Städten ist das Kulturleben weitgehend eine Frage des privaten Engagements, da kann die Beteiligung am Bodenseefestival mit all den Mitveranstaltersitzungen schnell einmal das Zeitbudget sprengen. Zum anderen scheint der Bodenseeraum kaum als gemeinsamer Kulturraum wahrgenommen zu werden. Hüben wie drüben ist das Interesse am Kulturleben jenseits der Grenze bescheiden. Dieses Potenzial sollte besser genutzt werden.

 

Arbon und Münsterlingen

Die verbleibenden Konzerte des Bodenseefestivals auf Schweizerseite finden am 29. Mai in der Kirche St. Martin in Arbon (19 Uhr) und gleichentags (17 Uhr) sowie am 30. Mai (20 Uhr) und am 1. Juni (17 Uhr) in der Klosterkirche Münsterlingen statt. Für das Münsterlinger Konzert vom 29. Mai mit Fazil Say und Patricia Kopatchinskaya sowie vom 1. Juni mit JOrdi Savall wird laut der veranstaltenden Stiftung für Konzerte in der Klosterkirche Münsterlingen eine übervolle Kirche erwartet.

Sie empfiehlt deshalb auch das Merel Quartett, das am 30. Mai auftritt. Das in Zürich beheimatete Quartett spielt ein Werk für Streichquartett der türkischen Komponistin Zeynep Gedizlioglu, die 2012 mit dem Komponistenförderpries der Ernst von Siemens-Stiftung, dem sogenannten „Nobelpreis für Musik“ geehrt wurde. Daneben stehen Streichquartette von Ludwig van Beethoven auf dem Programm.

Der Eintritt ist frei (Kollekte). Die Stiftung für Konzerte in der Klosterkirche Münsterlingen möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Platzzahl beschränkt ist und keine Reservationen möglich sind. (pd/red)

 

 

bodenseefestival.de

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