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von Bernhard Eymann, 05.10.2011

Phillips kopiert Dietrich – ein Kavaliersdelikt?

Phillips kopiert Dietrich – ein Kavaliersdelikt?
«Message Force Multiplier» (2009) von Richard Phillips übernimmt eine Winterlandschaft von Adolf Dietrich – in der Kunstszene akzeptiert, nicht aber vom Urheberrecht. | © Kunstmuseum des Kantons Thurgau (Ausschnitt)

Richard Phillips eignet sich Werke von Dietrich an. Ob das rechtlich erlaubt ist, wissen Künstler oft nicht und ist auch für Juristen und Wissenschaftler eine Ermessensfrage.

Bernhard Eymann

Ende August schloss im Kunstmuseum des Kantons Thurgau in Ittingen die Ausstellung «Malerei und Aneignung», die Gemälde von Adolf Dietrich und dem New Yorker Künstler Richard Phillips gezeigt hatte. Zu sehen waren Richard Phillips' künstlerische Übernahmen und Annäherungen an den Berlinger Maler. Die Konstellation folgt einer langen Tradition in der bildenden Kunst: Marcel Duchamp eignete sich einst die Mona Lisa an, Elaine Sturtevant die «Flowers» von Warhol, und bereits die alten Römer hatten massenhaft griechische Skulpturen kopiert. Bei solchen Übernahmen entstehen auch Abwandlungen in Form von Varianten oder Parodien. Heute ist es technisch einfacher als je zuvor, fremdes Geistesgut in eigene Werke einfliessen zu lassen. Zitate, Referenzen, Hommagen sind verbreitete Stilmittel. Doch wie weit dürfen die Künstler dabei gehen?

Kein Bewusstsein bei den Künstlern

«Künstler kennen ihre Rechtslage oft nicht», stellt Markus Landert, Konservator des Kunstmuseums, fest. Phillips sei vor der Ausstellung überzeugt gewesen, dass seine Werke – zumindest nach amerikanischem Recht – legal seien, da die Annäherung noch weit genug von den Originalen Dietrichs entfernt sei. Das Urheberrecht ist für den Künstler in diesen Punkten allerdings undurchsichtig, und künstlerische Übernahmen sind somit ein Risiko, in teure Streitereien verwickelt zu werden. «Strikt angewandt, würde das Urheberrecht wohl viele Werke in der bildenden Kunst verschwinden lassen.»

Nach dem Urheberrechtsgesetz (URG) hat nur der Urheber das Recht, sein Werk zu vervielfältigen. In den 1980er Jahren wollte die Appropriation Art die identische Kopie von Kunstwerken salonfähig machen. Eine Vorreiterin dieser Idee, Elaine Sturtevant, wurde an der Biennale von Venedig in diesem Jahr mit dem goldenen Löwen ausgezeichnet. Ihre Kopien wären nach Schweizer Recht schlicht unzulässige Vervielfältigungen, hätte sie vorgängig nicht die Einwilligung der Urheber eingeholt.


Wer fremde Werke nicht nur kopiert, sondern sie bearbeitet oder integriert, braucht ebenfalls die Einwilligung des Urhebers. Nur wenn die Übernahme so schwach ist, dass man den individuellen Charakter des Ausgangswerks nicht mehr erkennt, liegt eine freie Benutzung vor, die ohne Einwilligung bestehen darf. Doch wann ist der Charakter des Originals nicht mehr erkennbar? Welche Teile dürfen frei übernommen werden und welche nicht? Nicht nur Künstler, sondern auch Juristen und Kunstwissenschaftler können diese Fragen im Einzelfall selten klar beantworten.

Partnerschaften statt Prozesse

Die Aneignungen von Phillips bewegen sich in diesen urheberrechtlichen Kategorien. Die meisten sind wohl als Bearbeitungen zu qualifizieren, die eine Einwilligung bräuchten. So etwa unser Bild «Message Force Multiplier» (2009), das einen Ausschnitt eines Marinesoldaten vor dem verschneiten Untersee zeigt, entnommen aus Dietrichs «Winter am See» (1941). Das URG hätte es Dietrich erlaubt, gegen Phillips Aneignung gerichtlich vorzugehen, etwa Schadenersatz und die Einziehung zu verlangen. Dieses Vorgehen sei in der Kunstszene aber unüblich, erklärt Markus Landert. Niemand mag einen nervenraubenden Prozess anzetteln, wenn der Ausgang derart unsicher ist. Grosse Fälle, wie etwa in den USA, wo Jeff Koons wegen der Skulptur «Puppies» (1988) zu hohem Schadenersatz verurteilt wurde, weil er damit eine Fotografie von Art Rogers nachahmte, gibt es kaum. «Wenn es überhaupt Probleme gibt, löst man sie mit mündlichen Vereinbarungen», sagt Landert. Oder man beendet sie mit einer gegenseitigen Partnerschaft, wie bei Phillips und dem Kunstmuseum Thurgau.

«Künstler sollten kopieren dürfen»

Markus Landert wurde an der Art Basel auf Phillips' Nachahmungen von Dietrichs Werken aufmerksam und kontaktierte ihn kurz darauf. Die Urheberrechte von Adolf Dietrich nimmt die Thurgauer Kunstgesellschaft wahr, bei der Landert Vorstandsmitglied ist. Für Landert stand eine Verletzung des Urheberrechts im Raum. Doch anstelle eines Urheberrechtsprozesses gingen aus dem Kontakt zuerst ein Besuch Philips' in Ittingen und darauf die gemeinsame Ausstellung hervor.

Das geltende Urheberrecht entspricht den Bedürfnissen des heutigen Kunstmarkts nach Aneignungen nicht mehr. «Künstler sollten kopieren dürfen», meint auch Landert, «allerdings nur so weit der kommerzielle Ertrag des Originalurhebers nicht tangiert wird.» Ähnliche Ansätze werden auch in der juristischen Lehre vertreten. So wird diskutiert, statt des Urheberrechts das Recht über den unlauteren Wettbewerb anzuwenden, das stärker auf Auswirkungen auf dem Markt abstellt. Da das Urheberrecht nach europäischem Verständnis aber stark mit der Persönlichkeit des Künstlers verbunden ist, scheint diese Entwicklung utopisch. Das Kopieren in der Kunst wird noch eine Weile ein Kavaliersdelikt bleiben.

***

Der Steckborner Bernhard Eymann studiert in Basel Rechtswissenschaft und Kunstgeschichte. Er schreibt seine Masterarbeit über das Urheberrecht in der bildenden Kunst.

Kommt vor in diesen Ressorts

  • Kunst
  • Kulturpolitik

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