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von Maria Schorpp, 25.09.2017

Ästhetisch ziemlich eigensinnig

Ästhetisch ziemlich eigensinnig
Zsuzsanna Gahse (rechts) bei ihrer Buchpräsentation und Lesung im Literaturhaus Bodman. | © Christoph Rütimann

Zsuzsanna Gahse stellte im Literaturhaus Bodman ihr neues Buch „Siebenundsiebzig Geschwister“ vor und hatte Mitgefühl mit ihrem Publikum. Das muss sich erst noch an ihrem so spielerischen wie unorthodoxen Umgang mit Geschwisterkonstellationen und anderen mehr oder weniger engen Verwandtschaftsverhältnissen abarbeiten.

Von Maria Schorpp

Die einen haben den Spass, die anderen die Arbeit. Soll vorkommen. Aber dass die arbeitende Schriftstellerin den Spass hat und die Leserschaft, die den Spass haben sollte, die Arbeit, ist doch wohl falschherum. Zsuzsanna Gahse hatte jedenfalls Spass beim Schreiben ihres neuesten Buches, nach eigenem Bekunden mehr als bei allen anderen, und das sind immerhin um die 30 Stück. Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin und Übersetzerin ist aber eine viel zu erfahrene Vorleserin, um nicht zu bemerken, dass ihr Publikum im Literaturhaus Bodman zwar neugierig, aber doch auch einigermassen angespannt zuhörte. Sie forderte ihr Publikum heraus, um ganz zum Schluss fast entschuldigend zu sagen „War viel Arbeit für Sie, ich weiss.“

Dabei ist es etwas Subtileres, als das Wort Arbeit suggeriert. Eher die Herausforderung, übermächtige (Lese-)Gewohnheiten abzustreifen, womit man mitten im Thema dieses kuriosen Buches ist, das den Titel „Siebenundsiebzig Geschwister“ trägt. Diese Herausforderung ist so anspruchsvoll wie seine „Erziehung abzutrennen, abzuschälen, wie man Früchte schält, Mandeln die Haut abzieht“. Vordergründig geht es in dem Buch hauptsächlich um Geschwisterkonstellationen, wirkliche, eingebildete, in allen ihren Möglichkeiten daherfantasierte. Hintergründig zeichnet die Schriftstellerin einen „Stimmungsverlauf“, wie sie selber sagt, eine „emotionale Linie“ über 163 Seiten.

Abschied vom gewohnten Erzählfluss

Und das bedeutet: Abschiednehmen von dem gewohnten Erzähl- und Erörterungsfluss. Auch angesichts einer rätselnden Zuhörerschaft bestand Zsuzsanna Gahse konsequent auf der im Buch praktizierten unorthodoxen und sich der gängigen Alltagslogik verweigernden Sicht auf die Dinge. Auf die Frage nach den auftretenden „Maschinengeschwistern“ konterte sie, an die gewöhne man sich und hielte sie dann für ganz normal. Den Spass dabei sah man ihr an.

Nicht umsonst erhielt die im Thurgau wohnhafte Schriftstellerin just 2017 den Italo-Svevo-Preis, der „literarische Spielarten des ästhetischen Eigensinns“ honoriert, wie Kathrin Zellweger, Kuratorin des Literaturhauses, in ihrer Moderation anmerkte. Als Mitglied des Stiftungsrats der Kulturstiftung des Kantons Thurgau erfüllte sie wohl nicht ungern die Pflicht, über die Unterstützung des Buchprojektes durch die Stiftung zu informieren. Die Schriftstellerin revanchierte sich mit der Erstvorstellung ihres Neulings im Bodman-Haus.

Von der Freude am Formulieren

„Erzählinseln“ nannte Kathrin Zellweger die Textstücke, die sich den literarischen Schubladen weitgehend entziehen, mal lyrische Formen annehmen, mal kleine Erzählungen zum Teil surreal erscheinenden Inhalts sind, mal ausufernde Erörterung von Geschwisterkonstellationen und, wenn auch verzerrte, Darstellungen eigener Erinnerungen. Die Samstagstreffen mit Winnie, von denen es fünf Ausführungen im Buch gibt, könnten solche autobiographischen Akzente sein. Zumal sie in Wien, in Gahses erstem Wohnort nach der Flucht der Familie aus Ungarn, spielen. Fünf Personen treffen sich bei Winnie, um ein Buchprojekt über das Lachen zu besprechen. Naja, Geschwister sind keine darunter, eher Menschen, die eine intellektuelle Verwandtschaft zusammenhält.

Überschrieben sind die Kapitel mit unterschiedlichen Kombinationen der DNA-Buchstaben A, T, G und C. Zsuzsanna Gahse, übrigens auch Trägerin des Thurgauer Kulturpreises, geht es jedoch nicht allein um Gedankenspiele zu genetischen Verhältnissen. Da werden genauso sprachliche Überschneidungen zum Thema, Wortverwandtschaften, die, obwohl sie sich zweifellos wissenschaftlich nachvollziehen lassen, doch in ihrer Faktizität zum Staunen bringen. Das Staunen, nichts als selbstverständlich nehmen bilden den die Texte bestimmenden Gestus. Auch die von Zsuzsanna Gahse bekannte Freude am Formulieren ist festzustellen.

Nun ist es Aufgabe der Leserschaft, aus Arbeit ebenfalls Spass werden zu lassen. „Siebenundsiebzig Geschwister“, erschienen in der Edition Korrespondenzen, böte sich als Übungsbuch an.

Zsuzsanna Gahse (rechts) bei ihrer Buchpräsentation und Lesung im Literaturhaus Bodman. Neben ihr Moderatorin Kathrin Zellweger. Bild: Christoph Rütimann

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